Türkische Opposition in der Sinnkrise
Die Hoffnungen der türkischen Opposition waren groß, die Enttäuschung ist noch größer: Der alte und neue Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat sein lang gehegtes Ziel eines autoritären Präsidialsystems endlich in der Tat umsetzen können. Er kann nun ganz legal allein durchregieren, Minister und Verfassungsrichter einsetzen, Gesetze verabschieden. Zwar erreichte der CHP-Kandidat Muharrem İnce bei den Präsidentschaftswahlen einen Achtungserfolg von 30,6 Prozent der Stimmen – doch für eine Stichwahl reichte es nicht. Zwar verlor Erdoğans AK-Partei bei den zeitgleich stattfindenden Parlementswahlen ihre absolute Mehrheit und ist jetzt auf eine Koalition mit der ultrarechten MHP angewiesen, zwar nahm die prokurdische HDP die 10-Prozenthürde und erlang auch die neu gegründete nationalistische İYİ-Partei beachtliche 10 Prozent der Stimmen. Doch angesichts des neuen Systems ist das alles zweitrangig. Denn Erdoğan hat nun die absolute Macht.
Härtere Gangart seit der Wahl
Daraus ergeben sich zwei mögliche Szenarien: Erdoğan könnte sich nun zurücklehnen und einen versöhnlicheren Ton anschlagen. Oder er könnte nur noch unbarmhärziger gegen die Opposition vorgehen, glaubt die linke Tageszeitung Birgün: „Wir sollten uns keine Illusionen machen: Erdoğan wird genau das machen, was er bisher getan hat – nur mit härterer Gangart.“ Letzteres zeichnet sich bereits in den ersten Tagen nach der Wahl ab: so wurde am heutigen Freitag ein ehemaliger CHP-Abgeordneter wegen Terrorismus-Vorwürfen festgenommen, außerdem wurden in den letzten Tagen in Izmir 12 Personen festgenommen, weil sie vor der Wahlkampfveranstaltung des CHP-Kandidaten İnce Präsident Erdoğan beleidigt haben sollen. Der Innenminster verkündete derweil, die CHP dürfe nicht mehr an Beerdigungen für Gefallene teilnehmen, weil sie im Wahlkampf der prokurdischen HDP geholfen habe. Letztere bezeichnet die Regierung als verlängerter Arm der Terrormiliz PKK. Die Botschaft all dieser Ereignisse scheint klar: die CHP und ihre Anhänger müssen sich nun warm anziehen.
Derweil beobachten Regierung und ihnen nahestehenden Medien genüsslich, wie sich in der CHP ein Führungsstreit anbahnt. Denn die Partei erreichte bei den Parlamentswahlen nur knapp über 22 Prozent – 8 Prozentpunkte weniger als ihr Präsidentschaftskandidat Muharrem İnce. Nun werden in der CHP Stimmen laut, die fordern, dass ihr langjähriger Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu zurücktritt und Kandidat İnce an die Spitze kommt. In dieser Woche kam es sogar zu einem Sitzprotest vor der CHP-Zentrale in Ankara. Kılıçdaroğlu schloss zunächst einen Rücktritt aus, bezeichnete İnce aber als einen „Wert“ für die Partei. Das ist er tatsächlich: obwohl İnce erst vor zwei Monaten zum Kandidaten genannt wurde, gelang es ihm breite Massen zu mobilisieren, überzeugte er mit seiner versöhnlichen aber starken Rethorik, brachte er der Opposition neue Hoffnung. Allerdings mangelte es ihm – wohl auch dem Mangel an Zeit geschuldet – an handfesten Programmen und Lösungen für die krisengeplagte Türkei.
Krise der CHP
Am Sonntag wollen sich Kılıçdaroğlu und İnce treffen und ein weiteres Vorgehen diskutieren. Die beiden gelten als Rivalen, İnce unterlag in der Vergangenheit mehrmals in der Wahl zum Parteivorsitzenden. Hinter den Kulissen heißt es, İnce werde derzeit keinen Wechsel in der Parteiführung fordern, es aber begrüßen, wenn Kılıçdaroğlu selber seinen Platz räumen würde. Danach sieht es momentan nicht aus.
Die Krise der CHP lasse sich nicht durch eine Personalie lösen, glaubt hingegen die bekannte Kolumnistin und Menschenrechtlerin Oya Baydar auf dem Internetportal T24. Das Problem der CHP liege in ihrer Geschichte: Sie ist die Partei des Staatsgründers Atattürk, der zwar viele Reformen brachte und die Türkei gen Westen ausrichtete, aber auch sehr autoritär und nationalistisch regierte. Solange sich die Partei nicht kritisch mit ihrem Erbe auseinandersetze, könne sie auch keine Wahl gewinnen, so Baydar: „Diese 95-jährige Partei ist die Staatspartei des Republikgründer und geprägt von der Ideologie der westlichen, laizistischen Eliten. Ihnen zufolge muss das Volk ausgebildet und zivilisiert werden und brauche Vormundschaft. Sie selber würden den richtigen Lebensstil und die richtige politische Richtung verfolgen und seien beauftragt, dies dem Volk beizubringen“, so Baydar. „Solange die CHP diese Mentalität, die aus ihrem genetischen Code entspringt, nicht ändert, werden weder İnce noch jemand anderes diese Partei retten können.“
Neuer Wind durch junge Opposition?
Schließlich liegt der Erfolg Erdoğans auch in diesem Defizit begründet: Der Staatspräsident hat dem konservativ-religiösen Volk, auf das lange herabgesehen wurde, sehr geschickt neues Selbstbewusstsein gebracht. Durch ihn fühlen sich auch der Arbeiter oder die ungebildete Hausfrau an der Macht. Erdoğans repressive Politik ist da zweitrangig. Exemplarisch steht dafür Erdoğans Balkonrede am Sonntag: Darin sprach er nur wenig von sich selbst, aber sehr viel von seinem Volk, dass immer an seiner Seite gestanden und sich stets mutig und stark gegen Ungerechtigkeit, Terror und Putschversuche gestemmt habe. Dem sei er zu „unendlichem Dank“ verpflichtet.
Der CHP und anderen Oppoitionsparteien bleibt nun ein Jahr, um sich zu refomieren und neue Visionen zu entwickeln. Dann 2019 stehen Kommunalwahlen in der Türkei an. Die gelten in der Türkei als Barometer für die allgemeine politische Stimmung. Die Bedingungen für die Opposition dürfte sich bis dahin noch weiter verschärfen. Aber die vielen jungen Oppositionkandidaten, die es diesmal ins Parlament geschafft haben, könnten der Türkei neuen Wind bringen.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.