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Türkei: Neuer Rückenwind für die Opposition wird für Erdogan gefährlich

In Istanbul wurden alle Angeklagten im Gezi-Prozess freigesprochen. Selten zeigte sich so klar: In der türkischen Justiz tobt ein Machtkampf. Präsident Erdogan verliert erneut ein Stück Kontrolle über das Land. In der Regierungspartei AKP rumort es.
von Kristina Karasu · 19. Februar 2020
Recep Tayyip Erdogan (L): International trumpft der Präsident der Türkei gerne auf – hier mit Bundesaußenminister Heiko Maas (R) auf der Libyen-Konferenz am 19.01.2020 in Berlin. Innenpolitisch gerät Erdogan immer stärker unter Druck.
Recep Tayyip Erdogan (L): International trumpft der Präsident der Türkei gerne auf – hier mit Bundesaußenminister Heiko Maas (R) auf der Libyen-Konferenz am 19.01.2020 in Berlin. Innenpolitisch gerät Erdogan immer stärker unter Druck.

„Die Gerechtigkeit kam und ging wieder“ titelt die türkische Tageszeitung Karar. Tatsächlich erlebten die Beobachter des Gezi-Prozesses am Dienstag ein Wechselbad der Gefühle. 16 Angeklagten war vorgeworfen worden, die regierungskritischen Gezi-Proteste 2013 organisiert und mit ihnen einen Umsturz versucht zu haben. Für drei Angeklagte forderte die Staatsanwaltschaft gar lebenslange Haft, unter ihnen der bekannten Kulturmäzen Osman Kavala, der seit über zwei Jahren in Haft sitzt.

Erst Stille, dann Jubel im Gerichtssaal

Umso überraschender dann das Urteil: Aus Mangel an Beweisen wurden alle Angeklagten freigesprochen. Im Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri, gefüllt mit hunderten von solidarischen Anwälten, Oppositionspolitikern, europäischen Diplomaten und Angehörigen herrschte erst ungläubige Stille, dann brach minutenlanger Jubel aus.

Kavala setzte anschließend dazu an, dem Richter für das Urteil zu danken, doch der winkte ab und scherzte: „Bringen sie mich nicht unter Verdacht“. Ein Witz, der angesichts des massiven Drucks des Erdogan-Regimes auf die Justiz viel Wahres birgt. So kritisierten schon kurze Zeit später hochrangige Regierungs-Vertreter das Urteil scharf. Die überwiegend regierungstreuen Medien setzten ihre Propaganda-Maschinerie in Gang und betonten: Im Prozess sei noch lange nicht das letzte Wort gesprochen.

Neuer Haftbefehl nach dem Freispruch

Und tatsächlich, noch am Abend wurde für Kavala ein neuer Haftbefehl ausgesprochen, diesmal soll es sich um Ermittlungen zum Putschversuch vom 15. Juli 2016 handeln. Selten zeigte sich so klar, dass sich innerhalb des türkischen Justizsystems ein Machtkampf abspielt.

Zum einen macht die Regierung keinen Hehl daraus, ein ungelegenes Urteil auf keinen Fall akzeptieren zu wollen. So wurde im Laufe des Gezi-Verfahrens schon einmal der Richter ausgetauscht. Ein Urteil des Europäischen Menschengerichtshofes vom Dezember 2019, welches die sofortige Freilassung Kavalas forderte, wurde missachtet, obwohl es für die Türkei eigentlich bindend ist. Das gestrige Urteil hingegen unterstrich, was Kritiker schon lange betonen: Der über 600 Seiten langen Anklageschrift fehlt es vollkommen an Beweisen, vielmehr ist es ein Sammelsurium an vagen Vermutungen.

Unübersichtliche Machtkämpfe im Justizapparat

Ein weiteres Indiz für die unübersichtlichen Machtkämpfe innerhalb der Justiz ist die Tatsache, dass der Prozess im Frühjahr 2019 von einem Staatsanwalt angestoßen wurde, gegen den mittlerweile wegen Mitgliedschaft in der islamischen Gülen-Bewegung ermittelt wird. Er ist flüchtig. Tatsächlich hatte die Gülen-Bewegung jahrelang das türkische Justizsystem unterwandert, zudem wird ihr der Putschversuch vom Juli 2016 zur Last gelegt.

Das Urteil hätte nun ein kleines Stück Vertrauen in die türkische Justiz zurückbringen könne, insbesondere in Zeiten, in denen die Türkei wieder die Annäherung an die EU sucht. Und für die Millionen von Türken, die 2013 an Gezi teilgenommen hatten, bestätigte es die Legitimität ihrer Proteste. So wurde das Urteil in den sozialen Medien von Regierungsgegnern zunächst ausgiebig gefeiert, der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu begrüßte das Urteil auf Twitter. Dieser neue Aufwind für die Opposition ist für Erdogan ist höchst gefährlich, denn er steht ohnehin innenpolitisch unter großem Druck. Die Wirtschaft steckt weiter in einer tiefen Krise, viele Türken kommen angesichts hoher Inflation und Arbeitslosigkeit nur schwer über die Runden.

Politische Weggefährten wenden sich von Erdogan ab

Seit der Schlappe von Erdogans AKP bei den Kommunalwahlen im letzten Frühling schöpft die Opposition neues Selbstvertrauen, zudem hat Erdogans einstiger Weggefährte und Ex-Premier Ahmet Davutoglu im Dezember eine eigene Partei gegründet. Erdogans Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan, auch im Ausland als moderater und fähiger Politiker geschätzt, will ebenfalls im März eine eigene Partei gründen.

AKP-Mitgründer und Ex-Präsident Abdullah Gül erklärte dafür gestern seine Unterstützung. Ebenso erklärte Gül, er empfinde Stolz für die Gezi-Demonstranten. Er selbst war während der Gezi-Proteste im Amt, legte aber schon damals eine moderatere Haltung als Erdogan an den Tag. Dass es nun innerhalb der AKP rumort, ist ein offenes Geheimnis. Zwar tut Erdogan alles in seiner Macht stehende, um Politik und Staat auf Linie zu bringen, doch vollkommen gelingt ihm das auch nach 17 Jahren als türkischer Regierungschef nicht. Der gestrige Prozess ist ein weiteres Beispiel dafür.  

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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