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Türkei: Erdogan-Anhänger attackieren die Opposition mit Fäusten

Im türkischen Wahlkampf tritt die Opposition erstaunlich geschlossen gegen Erdoğan auf. Die CHP, Schwesterpartei der SPD, setzt geschickt auf gesellschaftliche Versöhnung. Gleichzeitig kommt es immer wieder zu Übergriffen durch AKP-Anhänger.
von Kristina Karasu · 12. Juni 2018
Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt.
Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt.

Es ist heiß, doch Wasser trinken kommt für den CHP-Parlamentskandidaten Gökhan Zeybek nicht infrage. Es ist Ramadan. Zwar sind Zeybek und seine Partei säkular eingestellt, doch sie wollen keine religiösen Wähler verstimmen. Heute sind sie auf Wahlkampftour im Istanbuler Stadtteil Bayrampaşa, einer Hochburg der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. „Wenn wir es hier nicht schaffen, können wir nirgendwo in der Türkei Fuß fassen“, glaubt Zeybek.

Furcht vor dem Präsidialsystem

An den Häuserfassaden prangt auf Bannern das Konterfei Erdoğans. Die Übermacht des Staatspräsidenten ist allgegenwärtig, durch die Neuwahlen am 24. Juni soll sie mit der Einführung des Präsidialsystems endgültig untermauert werden. Für den CHP-Kandidaten Zeybek wäre das ein Wendepunkt: „Solange die Ein-Mann-Diktatur Erdoğans weitergeht, kann sich die Türkei nicht erholen – weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich.“

Energiegeladen wandert Zeybek von Geschäft zu Geschäft, schüttelt Hände. Für jeden hat der 54-jährige Architekt einen Spruch parat. Viele reagieren jedoch zurückhaltend. „Es ist alles gut, so wie es ist, ich wähle wieder Erdoğan“, so ein Kioskbesitzer. Vor einem Wettbüro sitzen einige ältere Männer. „Die CHP arbeitet doch mit der PKK zusammen“, pöbelt einer von ihnen. Zeybek verschlägt es die Sprache – und zieht weiter. „Das war kein politischer Kommentar, sondern ein rassistischer“, sagt er.

Besuch im Gefängnis

Tatsächlich zeugt der Kommentar vor allem von der Propaganda-Wirkung der Regierung, die jeden ihrer Gegner als Terroristen beschimpft. Zeybeks Partei CHP ist vehement gegen die kurdische Terrormiliz PKK. Doch ihr Präsidentschaftskandidat Muharrem İnce schlägt neue Töne an, verspricht das Kurdenproblem durch mehr Minderheitenrechte und gesellschaftliche Versöhnung zu lösen. Auch besuchte er den Präsidentschaftskandidaten der prokurdischen Partei HDP Selahattin Demirtaş im Gefängnis. „Das war für uns Kurden eine enorm wichtige Geste“, erklärt ein Textilhändler ein paar Geschäfte weiter.

Für die CHP sind Stimmen der Kurden enorm wichtig, sie werden bei dieser Wahl mal wieder das Zünglein an der Waage sein. Bei den Präsidentschaftswahlen liegt Erdoğan in allen Umfragen weit voraus, doch die absolute Mehrheit scheint ihm nicht garantiert. Es ist gut möglich, dass Erdoğan und CHP-Kandidat İnce in die zweite Runde kommen. Dann wäre İnce auf breite gesellschaftliche Unterstützung angewiesen, um zu gewinnen. „Ich bin das links orientierte Kind einer konservativen Familie“, erklärt er gerne. Diese Rechnung scheint aufzugehen: Sowohl die HDP als auch die rechts angesiedelte, neu gegründete İYİ Partei deuten an, dass sie İnce im zweiten Wahlgang unterstützen würden.

Unterschiedliche Partner

Für die ebenfalls am 24. Juni stattfindenden Parlamentswahlen hat die CHP ohnehin eine Allianz mit der IYI-Partei, der pro-islamischen Saadet-Partei und der konservativen Demokratischen Partei geschmiedet. Es sind Parteien, die vollkommen unterschiedliche Ideologien und Lebensstile vertreten – doch in diesem Wahlkampf haben sie begriffen, dass sie nur gemeinsam Erdoğan schlagen können. Und so klingen auch die Programme der Oppositionsparteien ähnlich: Abkehr vom autoritären Präsidialsystem, Aufhebung des herrschenden Ausnahmezustandes, Gewaltenteilung.

Das Programm der Regierungspartei AKP hingegen setzt auf die bestehenden Verhältnisse. „Wir haben keine Wahlkampfversprechen, wir werben mit dem was wir in den letzten 16 Jahren erreicht haben“, erklärt ein AKP-Parteimitglied am Stand im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Einer seiner Parteikollegen verweist auf die Errungenschaften der AKP: „Wir haben Brücken und Straßen gebaut und errichten gerade den größten Flughäfen der Welt. Doch obwohl wir so gute Dienstleistungen bieten, werden uns manche Leute aus ideologischen Gründen niemals ihre Stimme geben.“

Angriffe und Schikanen

Die Wahlkämpfer am Stand der prokurdischen HDP ein paar Meter haben dagegen ganz andere Erfahrungen gemacht. „Alle drei, vier Tage wird unser Stand von Regierungsanhängern und Ultranationalisten attackiert, mit Worten und mit Fäusten“, erklärt der 26-jährige Bauvermesser Nihat Demir. „Weil ich in der HDP bin, kriege ich keine Stelle, und viele Bauherren drohen meinen Kollegen, sie würden ihren Job verlieren, wenn sie der HDP ihre Stimme geben. Wahlurnen in kurdischen Gebieten werden an andere Orte versetzt, unsere Parteiführung sitzt im Gefängnis, im Fernsehen gibt man unseren Politikern kaum eine Stimme.“

Auch zwei junge Mitglieder der IYI-Partei nebenan berichten von Angriffen auf ihre Parteistände und Schikanen. Die 23-jährige ehrenamtliche Helferin Merve Kayner spornt das erst recht an: „Meine Generation kennt nichts anderes als die AKP-Herrschaft. Doch die Bildung wird immer schlechter, wir finden nach dem Abschluss keinen Job, von Demokratie kann keine Rede mehr sein“, so die Studentin. „Wenn ich mich jetzt nicht politisch engagiere, verspiele ich auch noch meine Zukunft.“

Versöhnliche Rhetorik

Viele Parteien haben bei diesen Wahlen großen Zulauf von jungen Leuten. Auch die CHP, erklärt Lokalreporter Mustafa Balci, der die Kandidaten in Istanbul begleitet: „Jahrelang mangelte es der CHP an Erneuerung, litt sie an veralteten Strukturen. Doch bei diesen Wahlen treten 40 Prozent junge Kandidaten an“, so der Reporter.

Von einem Tag an den anderen lässt sich freilich auch keine CHP erneuern. Doch zumindest die versöhnliche Rhetorik Muharrem İnces lässt einen neuen politischen Wind wehen. „Seit Langem waren wir Regierungsgegner nicht mehr so aufgeregt“, erklärt eine Cafébesucherin dem CHP-Tross: „Es ist endlich Zeit für einen Wechsel!“ Ihr Mann lädt das Team zu einem Tee ein, Fastenmonat Ramadan hin oder her. Sie lehnen lächelnd ab. Aber dem Paar zuhören, das wollen sie gerne.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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