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Träume und Albträume

von Hannah Wettig · 6. Juni 2011
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In der Menschenmenge, die die Vereidigung der ersten Brigade der Nationalen Befreiungsarmee bejubelt, wollen sich viele den ausländischen Journalisten mitteilen. "Gaddafi go to hell," und immer wieder "Thank you!", rufen sie. "Kommst Du aus Amerika, England, Frankreich? Ach so, aus Deutschland ... Ist auch ein schönes Land. War ich mal: in Stuttgart."

Die jungen Rekruten sind noch fast Kinder, lachen während der Parade, als wäre es ein Schulausflug. Als sie die Mützen in die Luft schmeißen, rennen die Zuschauer los auf den Platz, tanzen mit den Soldaten Berbertänze. Ein älterer Herr bietet an, uns zurück in die Innenstadt von Bengasi zu nehmen.

Base-Caps, T-Shirts und Fähnchen

"Ich war 13 Jahre alt, als Gaddafi an die Macht kam", erzählt er. "Seitdem war mein Leben zerstört. Wenn er wiederkommt, gehe ich. Ich lebe lieber von 100 Dinar (50 Euro) im Monat als mit Gaddafi!" Er schüttelt den Kopf, als müsste er einen bösen Alb vertreiben. Er hat nicht mehr an die Befreiung geglaubt. "Die Jugend! Unsere Jugend! Dass die so etwas fertigbringt! Es ist wie ein Traum!"

"We have a dream. We want to be free", steht auf großen Plakaten zu lesen. Im Bengasi der Gegenwart wirkt das Zitat von Martin Luther King zurzeit nicht einmal wie ein Werbeslogan. Dabei läuft die PR und Vermarktung der Revolution perfekt: Überall prangen große Sprüche, überall rockt fetziger Revolutions-Rap. Die CD kann man an zahllosen Devotionalienständen neben Base-Caps, T-Shirts und Fähnchen erwerben.

Wenn die älteren Libyer über den 17. Februar sprechen, sieht man förmlich wie die Last der Unterdrückung an diesem Tag von ihnen genommen wurde. Ihre Gesichter sprechen deutlicher als ihre Worte von der Angst, dass der Westen nicht früh genug eingreifen würde. Ihre Rücken richten sich auf, wenn sie von der Erleichterung berichten, mit der sie in letzter Minute die rettenden Flugzeuge hörten. Der Freudentaumel hält noch immer an. Wie das freie Libyen aussehen soll, weiß zur Stunde niemand so genau zu beantworten. Jetzt muss erst einmal der Westen des Landes befreit werden.

Politik ohne Islam

"Wir brauchen Gesetze", sagt der ältere Herr, der uns mitnimmt. "Wir wollen eine islamische Demokratie," erzählt Naji Ali, eine 54-jährige Mutti, die die Putzkolonnen am Tahrir-Platz organisiert. So wie in der Türkei? "Nein." Wie in Saudi-Arabien? Wie im Iran?

"Nein, nein. Die bringen Menschen um. In einer islamischen Demokratie sind alle vor dem Gesetz gleich. Das gibt es noch nicht." Ein Taxifahrer drückt es so aus: "Wir wählen einen Präsidenten für vier Jahre. Wenn er gut ist, o.k., noch mal vier. Wenn nicht ..." Er macht eine wegwerfende Handbewegung.

Mari, ein Abkömmling der früheren Königsfamilie, tritt lässig in die Luft, als ich von einem Sheikh berichte, der am Tahrir-Platz gerade über Koran und islamisches Gesetz ins Mikrophon schreit (später erfahre ich, das er im Übergangsrat für Religiöse Fragen zuständig ist). "Die haben 42 Jahre lang die Fresse gehalten, haben Gaddafi die Hand geschüttelt. Jetzt wollen sie schon immer gegen Gaddafi gewesen sein. Wir brauchen keinen Islam in der Politik."

Autor*in
Hannah Wettig

ist freie Journalistin.

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