Steinmeier: Frieden braucht Dialog - auch mit Russland
Ute Grabowsky / photothek.net
Am 70. Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht besuchte ich mit dem russischen Außenminister die Kriegswüste von Stalingrad. Was Deutsche in Osteuropa und der Sowjetunion angerichtet haben, dürfen wir niemals vergessen. Denn hieraus erwächst die Verantwortung, die wir Deutsche für den Frieden auf diesem -Kontinent tragen.
„Völkerrrechtswidrige Annexion der Krim“
Von einem Zeitalter des Friedens sind wir heute weit entfernt. Blutige Konflikte toben in Europas Nachbarschaft. Doch auch mitten durch Europa geht ein tiefer Riss. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine hat sich ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki offen gegen eines der Grundprinzipien der europäischen Friedensordnung gestellt. Und die jüngsten Nachrichten, die uns aus der Ukraine erreichen, rufen uns nochmal mit aller Wucht in Erinnerung, dass in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ein Konflikt herrscht, der immer noch das Zeug hat, ganz Europa zu erschüttern. Unserer Politik muss stets vor Augen stehen, wie schicksalhaft das Verhältnis zu unserem großen Nachbarn im Osten für die Sicherheit in Europa ist.
Keine Partei hat sich in der Vergangenheit so sehr um die deutsch-russischen Beziehungen, um die Verständigung zwischen Ost und West bemüht wie die SPD – heute müssen wir es wieder tun! Und gerade weil wir unsere historische Verantwortung für die europäische Friedensordnung ernst nehmen, waren wir es, die auf den Prinzipienbruch klar und unmissverständlich reagiert haben, und die unsere Partner in diese Reaktion eingebunden haben.
Auf das Gefühl der Bedrohung, das im Baltikum und in Ost- und Mitteleuropa entstanden ist, haben wir in der NATO gemeinsam reagiert, mit Rückversicherungsmaßnahmen in Umsetzung der Wales-Beschlüsse und auf dem Warschauer Gipfel.
Wir brauchen beides: Abschreckung und Entspannung
Wir dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren, dass wir uns im Bündnis von zwei gleichrangigen Prinzipien haben leiten lassen: Abschreckung und Entspannung, Grundsätze, die uns später zur NATO-Russland-Grundakte geführt haben und die wir gerade jetzt nicht zur Disposition stellen dürfen, wie manche es leichtfertig fordern.
Denn zur Verantwortung für den Frieden auf diesem Kontinent gehört als Lehre aus dem blutigen 20. Jahrhundert, sich nicht in einer endlosen Spirale der Eskalation zu verlieren. Es ist unsere Pflicht, die Gesprächsfäden nicht zu kappen, nicht nur um das Risiko von militärischen Missverständnissen zu minimieren, sondern noch mehr, um den Prozess der Vertrauensbildung zu ermöglichen. Dazu gehört auch das Feld der Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Verstehen-Wollen darf kein Schimpfwort werden
Es sind wir die Erben Willy Brandts, die sich um das Verhältnis zu Russland kümmern müssen. Sonst wird dies niemand tun. Dabei dürfen wir uns nicht klein machen, wenn uns diejenigen, deren außenpolitisches Engagement in Dauerkommentierung von der Seitenlinie erschöpft, als „Russland-Versteher“ verunglimpfen wollen. Wo kommen wir in der Außenpolitik hin, wenn das Verstehen-Wollen zu einem Schimpfwort wird?
Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. Das gilt auch für die Brandherde im Nahen und Mittleren Osten. Wir machen uns über das russische Vorgehen in Syrien dabei keine Illusion. Wir sagen, dass Moskau als Unterstützter des Assad-Regimes die Verantwortung trägt, eine humanitäre Katastrophe im Land zu verhindern. Das sagen wir klar und deutlich.
Russen und Deutschen müssen im Gespräch bleiben
Neben der politischen Ebene kommt es in diesen spannungsgeladenen Zeiten umso mehr auf den Draht zwischen den Menschen an. Deshalb habe ich vorige Woche zum sechsten Mal, Studierende in Jekaterinburg getroffen, um mit ihnen über das Verhältnis unserer Länder zu diskutieren.
Die Geschichte von Deutschen und Russen war in den vergangenen Jahrhunderten allzu oft eine Geschichte der Extreme. Wo Entfremdung und Feindschaft sich zwischen uns breit gemacht haben, waren die Folgen verheerend – für uns selbst aber auch für andere in Europa. Auch deshalb müssen wir verhindern, dass aus den aktuellen politischen Differenzen und Konflikten, die wir mit der russischen Regierung haben, eine Entfremdung zwischen unseren Völkern wird. Auch dazu brauchen wir den Dialog. Nur wenn wir die Gräben, die uns trennen, klar und ehrlich benennen, haben wir die Möglichkeit, sie zu überwinden. Wir brauchen also den Doppelten Dialog: den Dialog über Trennendes und über Gemeinsames.
Berührende Begegnung in Wolgograd
Vor einem Jahr, am Abend nach dem Besuch auf den Schlachtfeldern von Stalingrad, kamen der russische Außenminister und ich in die Stadt, die heute Wolgograd heißt. Auf dem Paradeplatz gaben russische und deutsche Musiker gemeinsam ein Friedenskonzert. Als wir eintrafen, begrüßten uns tausende Bürger, Vertreter des Volkes, das so viel Leid über die Stadt und ihre Familien gebracht hat, nicht mit Ablehnung – sondern mit Herzlichkeit. Da war kein Vorwurf, sondern die Botschaft der Menschen an uns beide war: „Gut, dass ihr zusammen hier seid. Nehmt eure Verantwortung ernst! Gerade in dieser Zeit!“
Unsere Verantwortung für den Frieden in Europa ist untrennbar verbunden mit der Verantwortung für die deutsch-russischen Beziehungen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass einer Geschichte der Extreme nicht eine Zukunft der Extreme folgt.