International

Starke politische Polarisierung der Türken in Deutschland

Am Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Auch die in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger sind zur Wahl aufgerufen. Religiöse und säkulare, türkisch-nationalistische und pro-kurdische Wähler stehen sich dabei – auch in Deutschland – immer unversöhnlicher gegenüber.
von Yaşar Aydın · 29. Oktober 2015
placeholder

Vor den türkischen Konsulaten in Deutschland gab es am vergangenen Sonntag wieder lange Schlangen. Von den 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Wahlberechtigten haben knapp 600 000 türkische Staatsbürger vom 8. bis 25. Oktober zum zweiten Mal in diesem Jahr ein neues Parlament gewählt. Zuvor erhielten sie einen Brief, unterschrieben von Premier Davutoğlu, mit einer Wahlempfehlung für seine regierende islamisch-konservative AKP. Während ein Teil der Bürger sich darüber freute, waren andere irritiert und fragten sich, ob dieses Vorgehen mit den Datenschutzbestimmungen zu vereinbaren sei. Besonders die Nicht-AKP-Wähler empörten sich in sozialen Medien darüber.

Vor der Türkei-Wahl: Für oder gegen Erdoğan?

Gemischt war die Stimmung auch vor dem Konsulat in Hamburg. Die AKP-Regierung habe dem Land eine Wirtschaftsdynamik beschert, das Verkehrsnetzwerk massiv ausgebaut, die Gesundheitsversorgung und die kommunalen Infrastrukturen deutlich verbessert – so begründen viele AKP-Wähler ihr Wahlverhalten. Die Wähler der säkular-republikanischen und linken CHP oder der pro-kurdisch linken HDP verweisen auf die Menschenrechtsverletzungen, die in letzter Zeit wieder zugenommen haben, die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit sowie auf den autoritären Führungsstil von Präsident Erdoğan.

Auffallend ist dabei, dass Fragen, die die Türkeistämmigen in Deutschland unmittelbar betreffen – außer dem Auslandswahlrecht – kaum zum Streitthema werden. Die Stärkung der Beziehungen der Türkeistämmigen zum Mutterland, Unterstützung beim türkischen Sprach- und islamischen Religionsunterricht, der Wehrdienst in der Türkei – über all das wurde kaum bis gar nicht diskutiert.

Terroranschlag von Ankara überschattet die Wahl

Die Hochphase des Wahlkampfes war überschattet vom Terroranschlag von Ankara am 10. Oktober, bei dem ungefähr 100 Menschen starben und noch mehr verletzt wurden. Wer hinter dem Attentat steht, ist noch immer unklar. Es hat allerdings die türkische Gesellschaft noch mehr gespalten und die politische Polarisierung vertieft – auch unter den Türkeistämmigen in Deutschland. Sie gingen auf die Straße – die einen, um die Menschenrechtsverletzungen, den Demokratieabbau und die Demontage des Rechtsstaates anzuprangern, die anderen, um die Terroranschläge der verbotenen kurdischen PKK zu verurteilen. Bei den Protestmärschen kam es sporadisch zu Spannungen und sogar zu Zusammenstößen zwischen Jugendlichen aus beiden Lagern.

Ein Großteil der Türkeistämmigen drückt sich vor politischer Verantwortung, wenn es darum geht, die Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und den Demokratieabbau durch die Regierung zu kritisieren. Die anderen wiederum halten sich bei den Terroranschlägen der PKK mit Kritik zurück.

Zwei Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber

Auch in Deutschland stehen sich zwei Lager zunehmend unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite finden sich Traditionskonservative, religiöse Menschen, türkische Nationalisten und zum Teil sich radikalisierende Islamisten, die die rechtsstehenden Parteien wählen. Das waren 65 Prozent bei der jüngsten Parlamentswahl. Sie eint vor allem eine tiefe Abneigung gegen alles, was im linkssäkularen Lager zum guten Ton gehört. Auf der anderen Seite finden sich Linke verschiedener Couleur, Kurden und Aleviten, die überwiegend die linkssäkulare CHP, die pro-kurdisch linke HDP und weitere linke Splitterparteien wählen und Erdoğans absoluten Machtanspruch ablehnen. Sie kamen bei der jüngsten Wahl auf 35 Prozent.

Rechte und Linke, Konservative und Laizisten, Monokulturalisten und Pluralisten – sie stehen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber und favorisieren konträre, einfache Lösungen, um die Krisen und Verwerfungen der türkischen Gesellschaft in den Griff zu bekommen: die Linken einen Machtwechsel (Abwahl der AKP), ein Zurück zu republikanischen Prinzipien oder die Abschaffung des Kapitalismus, die Rechten die Idee einer kulturell homogenen Nation, eine konservativ-nationalistische Regierung mit einem Sicherheitsparadigma.

Braucht Erdoğan einen Koalitionspartner?

Dies könnte sich nach der Wahl am 1. November ändern. Diesmal liegt die Regierungspartei AKP in den Umfragen zwischen 38 und 42 Prozent. Damit scheint sie von einer Parlamentsmehrheit weit entfernt zu sein, so dass ein Zweckbündnis mit der CHP eine Lösung sein könnte. Damit ließe sich zumindest die innertürkische Polarisierung eindämmen, bevor sie jedweder Kontrolle entgleitet.

Schlagwörter
Autor*in
Yaşar Aydın

lehrt an der HafenCity Universität Hamburg.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare