International

Sparen statt investieren: Uruguays riskanter Kurs durch die Corona-Krise

Die Regierung in Uruguay hat schnell, entschieden und mit Augenmaß auf die Corona-Pandemie reagiert. Doch statt die Konjunktur anzukurbeln, setzt sie nun auf eine neoliberale Sparpolitik. Das könnte sich rächen.
von Sebastian Sperling · 13. Juli 2020
Während der Corona-Pandemie tragen sogar die Statuen in uruguays Hauptstadt Montevideo Mundschutz. Mit ihrem Sparkurs setzt die neoliberale Regierung die erzielten Erfolge jedoch aufs Spiel.
Während der Corona-Pandemie tragen sogar die Statuen in uruguays Hauptstadt Montevideo Mundschutz. Mit ihrem Sparkurs setzt die neoliberale Regierung die erzielten Erfolge jedoch aufs Spiel.

„Oase“, „Phänomen“, „Musterschüler“: Angesichts bislang erfolgreicher Pandemiekontrolle erfährt die uruguayische Regierung international viel Anerkennung und daheim viel Zustimmung. Zu Recht. Sie reagierte schnell, entschieden und mit Augenmaß, ohne harte Ausgangssperren, auf Eigenverantwortung und wissenschaftlichen Rat bauend. Die Zahl der aktiven Fälle ist konstant niedrig, die lokal entwickelten Test-Kapazitäten sind hoch. Uruguay, einmal mehr positive Ausnahme in Südamerika.

Sparpolitik statt Konjunkturpaket

Weniger internationale Aufmerksamkeit findet, dass die erst kurz vor dem sanitären Notstand ins Amt gekommene Mitte-rechts-Regierung parallel mit Hochdruck eine umfassende Reformagenda vorantreibt. Vieles davon drückte sie verfassungsrechtlich umstritten in einem Riesen-Gesetzespaket im Eilverfahren durch beide Kammern. In diesen Tagen wird es im Senat endgültig beschlossen. Antworten oder auch nur Verweise auf die historischen Ausmaße der pandemiebedingten Rezession und sozialen Verwerfungen sucht man darin vergebens. Viele Maßnahmen laufen entgegen dessen, was man als Antwort auf eine so fundamentale Krise erwarten würde. Der rote Faden der Reformen: Austerität, Deregulierung, Repression.

Statt Konjunkturpakete mit Wumms schnürt die Regierung den Gürtel enger. Per Präsidialdekret hatte sie bereits im März die aktuellen Jahreshaushalte aller Ministerien um 15 Prozent gekürzt. Statt öffentlicher Investitionsprogramme bringt sie zur bereits existierenden Schuldenbremse nun auch noch symbolträchtig einen weiteren gesetzlichen Ausgabendeckel durchs Parlament. Zwar hat sie schnell mit den Stimmen aller Parteien einen Corona-Fonds aufgelegt, vorübergehendes Arbeitslosengeld installiert und Unternehmen günstige Kredite angeboten. Statt die Binnennachfrage zu stimulieren, würgt sie diese jedoch weiter ab: Inmitten der Pandemie erhöhte sie die Tarife für Strom, Wasser und Telefon um etwa zehn Prozent und strich den vierprozentigen Mehrwertsteuer-Rabatt bei Kartenzahlungen, was vor allem Geringverdiener trifft.

Lebensmittelpakete statt Grundeinkommen

Gleichzeitig drängt sie in den Gehaltsverhandlungen der tripartiten Lohnräte auf einen Abschluss deutlich unter der Inflation – also eine Reallohnsenkung. Das von Opposition und Gewerkschaften geforderte zeitlich begrenzte Grundeinkommen für das Viertel von Haushalten, das noch von prekären und informellen Einkünften abhängig ist, lehnt die Regierung ab. Sie setzt stattdessen auf karitative Maßnahmen wie die Verteilung von Lebensmittelpaketen. Im Sozialministerium behindern mitten in der Krise neben der Budgetkürzung auch “effizienzfördernde Umstrukturierungen” das Funktionieren von bestehenden Programmen. Bis Ende des Jahres muss die Regierung ihren ersten eigenen Haushalt vorlegen – dann wird man sehen, wie weit sie diese Austerität noch treiben wird.

Zweitens geht es ihr um den Abbau von Regulierungen, mit denen Vorgänger-Regierungen Gemeinwohlinteressen vor Kapitalinteressen geschützt hatten. Das Gesetz zur finanziellen Inklusion, welches u.a. Arbeitgeber verpflichtet, Gehälter nur per Banküberweisung zu zahlen und entsprechend Steuerhinterziehung erschwert, wickelt sie ab. Das in der Verfassung verankerte Streikrecht der Gewerkschaften schränkt sie ein. Und während sie endlich auch in Uruguay ein Umweltministerium etabliert, will sie zeitgleich einen großen Teil der naturgeschützten Flächen des Landes für die kommerzielle Nutzung freigeben. Im Parlament liegt zudem bereits ein neues Mediengesetz, mit dem sie einige der Privilegien der großen Medienkonzerne wiederherstellen, Publikums-Rechte einschränken und die gesetzlichen Grenzen der Medienkonzentration aufheben will.

Schock-Therapie statt Scheibchen-Taktik

Die neoliberale Agenda paart sie drittens mit einer repressiven. Die Regierung verschärft unter anderem das Strafrecht und erweitert die Kompetenzen der Polizei sowie die Straffreiheit bei bewaffneter Selbstverteidigung. Der auch von einer Pandemie nicht gebremste Eifer der Regierung erklärt sich zum einen aus der Lehre, die Mauricio Macris Scheitern in Argentinien hinterließ: statt Scheibchen-Taktik lieber eine Schock-Therapie direkt am Anfang der Amtszeit, dem Widerstand von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zum Trotz.

Zum anderen ist unsicher, wie lange die Fünfparteienkoalition noch Mehrheiten im Parlament garantiert. Sie einte vor allem das taktische Interesse, das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio nach 15 Jahren aus dem Amt zu bekommen sowie das integrierende Wirken des Präsidenten Luis Lacalle Pou. Anders als sein Vorgänger zeigt dieser sich als Krisenmanager omnipräsent, dynamisch, nahbar und empathisch. Den Kältetod eines Obdachlosen kommentiert er mit „Schmerz und Verantwortung“. Er persönlich steht für das Wahlversprechen der Koalition „bereit zu sein“ und kaschiert damit das Chaos, das bisweilen in den Reihen dahinter herrscht.

Die Regierung rüttelt an den stabilisierenden Faktoren

Auch acht Monate nach dem Wahlsieg sind noch zahlreiche Posten unbesetzt. Zudem sind die inhaltlichen Differenzen innerhalb der Koalition groß und die mittelfristigen Interessen und Strategien der Parteien höchst unterschiedlich. Vor allem die militaristisch-rechtspopulistische Bewegung Cabildo Abierto spielt parallel ihr eigenes Spiel gegen das Politik-Establishment. Der Außenminister Ernesto Talvi, Führer der zweitstärksten Koalitionspartei „Partido Colorado“, trat bereits nach drei Monaten entnervt zurück. In den parlamentarischen Verhandlungen konnte die Opposition die Risse in der Koalition unter anderem nutzen, um zumindest die Teil-Privatisierungen von staatlichen Unternehmen aus dem aktuellen Reformpaket zu verhandeln.

Mit ihren Reformen rüttelt die Regierung nun inmitten der Covid-Krise just an einigen der Faktoren, die das Land in der Region positiv abheben – und die zum Teil auch den aktuellen Erfolg in der Pandemiekontrolle erklären. Kein Land der Region ist weniger ungleich, kein Land hat den informellen Sektor derart reduziert und ein solch robustes öffentliches Gesundheitssystem. Der Sozialstaat ist solide, die Reallöhne hoch und der Arbeitsschutz gut dank starker Gewerkschaften und funktionierender Lohnräte. Die digitale Infrastruktur ist gut ausgebaut und das Vertrauen in die Institutionen zwar rückläufig, aber höher als in den Nachbarländern. Die Staatsverschuldung ist zwar relativ hoch, aber ebenso die Kreditwürdigkeit und die Staatsreserven. In einem aktuellen Bericht, mit dem sie bei internationalen Investoren wirbt, hebt die Regierung dies selbst als Vorteil hervor.

Daheim kultiviert sie dagegen die Erzählung vom „katastrophalen Erbe“, das sie vermeintlich vorgefunden habe. Und darin liegt ein Teil der Erklärung dafür, wie sie mit ihrer Agenda überhaupt eine Wahl und nun auch breite Unterstützung gewinnen konnte: sie hat kulturelle Hegemonie zurückgewonnen. Mit vielfach berechtigtem Verweis auf fortbestehende Missstände diskreditierte sie die Vorgängerregierung, zum Teil von links – um nun mit Maßnahmen von rechts zuzuschlagen.

Uruguay ist hochgradig von der internationalen Nachfrage abhängig

Erfolgreich installiert hat die Regierung dabei vor allem die Idee, dass die Interessen von Kapital und Wirtschaftselite gleich Gemeinwohlinteressen seien. Entsprechend sieht auch die vorgesehene Lastenverteilung in der Krise aus: Während die Regierung die höheren Einkommen des öffentlichen Dienstes für die Finanzierung des Corona-Fonds  monatelang um bis zu 20 Prozent reduzierte und die geringeren Einkommen unter den genannten Maßnahmen leiden, schließt sie höhere Besteuerung von privaten Spitzenverdienern und Großunternehmen kategorisch aus – diese seien ja für den gewünschten Aufschwung verantwortlich.  

Aus der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise zum Jahrtausendbeginn war das Land entgegen aller neoliberalen Weisheit damals herausgekommen mit einer aktiven Investitions- gepaart mit einer progressiven Sozial- und Lohnpolitik sowie einer Ausweitung von Bürgerrechten. Ergebnis waren regionale Spitzenplätze in vielen Sozial-, Demokratie- und Wirtschafts-Indikatoren gepaart mit der längsten ununterbrochenen Wachstumsphase der Geschichte, die jetzt erst in der Covid-Rezession ihr Ende findet. Mag sein, dass sich die Hoffnung der Regierung auf eine „V-förmige“ Erholung der Wirtschaft erfüllt – wenn es die internationale Nachfrage erlaubt, von der sie hochgradig abhängig ist. Doch auf dem Weg des Abbaus der Ungleichheit – auf dem auch nach 15 Jahren progressiver Regierung noch viel Strecke bleibt – dreht Uruguay nun erstmal um.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Sebastian Sperling

leitet seit 2021 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Johannesburg.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare