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Schweizer Sozialdemokraten wollen EU-Beitritt: Darum blicken sie jetzt auf Deutschland

Die Sozialdemokraten stellen in der Schweiz die zweitgrößte Fraktion im Parlament und wollen das Land in die EU führen. Deswegen beobachten sie die politische Entwicklungen im wirtschaftlich stärksten Land der EU sehr genau, sagt Außenpolitiker Fabian Molina.

von Lea Hensen · 21. November 2024
Flaggen der Schweiz und anderer Länder sowie der EU am Bodensee

Flaggen der Schweiz und anderer Länder sowie der EU am Bodensee

Herr Molina, die Schweiz liegt mitten in Europa, aber nimmt immer die Rolle eines Außenseiters ein. Derzeit befinden sich Brüssel und Bern wieder in intensiven Gesprächen. Worum geht es?

Die Schweiz ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Die EU ist aber mit Abstand unser wichtigster Handelspartner, denn wir sind über zahlreiche bilaterale Abkommen mit dem EU-Binnenmarkt verbunden, gewähren im Gegenzug Personenfreizügigkeit und sind Schengen-Mitglied: EU-Bürger*innen können in der Schweiz, Schweizer*innen in den EU-Ländern arbeiten und unkompliziert reisen. Trotzdem bleiben viele rechtliche Fragen ungeklärt, auch, weil sich europäisches Recht permanent weiterentwickelt, während die bilateralen Abkommen nach und nach veralten. 

Wie will man dieses Problem lösen?

Die Schweiz und die EU haben jahrelang über ein Abkommen verhandelt, das übergreifende Regeln für die Verträge sichern sollte. Doch vor drei Jahren hat die Schweizer Regierung die Gespräche mit der EU aufgekündigt: Die rechte Partei SVP machte Stimmung gegen zu viele Vorschriften, aber auch die Gewerkschaften meldeten Bedenken wegen des Arbeitsschutzes an. In Folge flog die Schweiz unter anderem aus dem weltweit größten Forschungsprogramm „Horizon Europe" – und dass, obwohl wir ein großer Universitäts- und Innovationsstandort sind.  Seit diesem Jahr laufen die Gespräche wieder, in abgewandelter Form: Es geht nicht mehr um ein Rahmenabkommen, sondern um eine separate Lösung in jedem Abkommen, damit die Schweiz nicht per se jede EU-Rechtsentwicklung übernehmen muss.

Wie stehen die Chancen, dass die neuen Verhandlungen diesmal ein positives Ende nehmen?

Wir gehen davon aus, dass der Bundesrat und die Kommission noch 2024 die Verhandlungen abschließen. Dann beginnt der Ratifikationsprozess auf beiden Seiten – auf Seiten der EU wohl reine Formsache, auf Seiten der Schweiz wird das eine Diskussion über das Sein oder nicht Sein dieses Landes. Am Ende trifft in der Schweiz das Stimmvolk die Entscheidung. Zwischen 55 und 60 Prozent der Bevölkerung haben bisher den bilateralen Weg unterstützt. Das große Trauma der Schweizer Europapolitik war das Nein in einer sehr knappen Volksabstimmung über den Beitritt zum EWR in 1992, als auch der Vertrag von Maastricht unterzeichnet wurde. Damals haben wir den Anschluss verloren, die bilateralen Verträge waren später eine Notlösung.

Fabian Molina ist Außenpolitiker der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.

 

 

Wieso sind die Beziehungen zur EU ein Thema, das die Gesellschaft derart spaltet?

Die Schweiz hat mit ihrer direkten Demokratie und dem Neutralitätsgebot einen Sonderweg in Europa beschritten. Die Rechtspopulisten, die bei den letzten Wahlen rund 30 Prozent der Stimmen bekamen, behaupten deswegen, die Schweiz sei wohlhabender und überlegener als andere Staaten, und engere Beziehungen mit der EU könnten diese Souveränität bedrohen. Sie warnen vor den „fremden Richtern“ in Brüssel, und vor mehr Zuwanderung, obwohl die Personenfreizügigkeit ohnehin schon lange gilt. Ich denke, wir sind als Land in sehr ähnlicher Weise abhängig von Europa wie alle 27 EU-Mitgliedstaaten, nur haben viele Schweizer*innen den Eindruck, dass dieser Wohlstand allein unser eigener Verdienst ist. Unser Land hat immer ihren Wohlstand daraus bezogen, dass sie sehr stark im Handel mit ihren europäischen Nachbarn war. Eine Bertelsmann-Studie hat gezeigt, dass die Schweiz am meisten vom EU-Binnenmarkt profitiert. Jeder zweite Franke wird im Austausch mit der EU verdient. Bisher hat die Schweiz den Wohlstandsgewinn der europäischen Öffnung dank Lohnschutz-Maßnahmen recht gerecht verteilt. Das muss im Sinne der Mehrheitsfähigkeit weiter gestärkt werden. 

Die Sozialdemokrat*innen stellen mit 20 Prozent der Stimmen die zweitgrößte Partei der Schweiz. Was sind ihre Interessen in Bezug auf die EU?

Wir sind die einzige Partei, die die Zukunft der Schweiz in der EU sieht und sich irgendwann einen Beitritt vorstellen kann. Bis dahin wollen wir die Beziehungen zu Brüssel stabilisieren und weiterentwickeln in den Bereichen, in denen es schon gut funktioniert und in denen es auch auf beiden Seiten ein klares Bedürfnis danach gibt. 

Wie ist das Verhältnis der Schweizer Sozialdemokrat*innen zu Deutschland?

Deutsche Politik und Kultur sind in vor allem in der deutschsprachigen Schweiz omnipräsent, weil wir ein sehr kleines Land sind, das in gewissen Regionen die gleiche Sprache spricht wie unser großer Nachbar. Deutschland und insbesondere die SPD spielen für uns eine sehr wichtige Rolle. Wir sind zwar assoziiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Europas, aber nicht in der S&D-Fraktion im EU-Parlament vertreten. Als Nicht-EU-Mitglied sind wir immer Außenseiter. Die SPD hat uns immer sehr dabei unterstützt, unsere Themen bei den Kommissar*innen in Brüssel voranzubringen.

Nun ist in Deutschland gerade die Ampel-Regierung zerbrochen. Die SPD kämpft mit historisch schlechten Umfrageergebnissen. Wie schauen Sie auf diese Situation?

Mit großer Sorge. Deutschland ist das größte und wirtschaftlich stärkste Land in Europa und hat immer noch einen riesigen Einfluss darauf, wohin sich dieser Kontinent entwickelt. Und da spielt die SPD eine ganz entscheidende Rolle. Aus historischen Gründen waren die Rechtsextremen in Deutschland immer sehr schwach, und jetzt sehen wir, dass sich das ändert. Wir hoffen natürlich sehr stark, dass die SPD auch eine neue Bundesregierung stellen wird. Aber als die Ampel-Koalition geplatzt ist, und Olaf Scholz vor die Presse getreten ist, war da auch eine Erleichterung. Wir wussten alle, dass mit Christian Lindner keine aktive Politik machbar ist. Wenn man ein Land industriell, klimapolitisch und sicherheitspolitisch erneuern will, kostet das Geld – aber wie soll das funktionieren, wenn Deutschland einen Finanzminister hat, der alles abwürgt? Ich glaube, die Herausforderung wird jetzt sein, zu zeigen, dass die SPD einen Plan für Deutschlands Zukunft und Sicherheit hat und dass der nur umzusetzen ist – mit einem starken Mandat.

Fabian Molina ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) und sitzt seit 2018 im Schweizer Nationalrat. Er ist spezialisiert auf Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Von 2014 bis 2016 war er Präsident der Schweizer Jusos.

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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