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Protestmarsch in der Türkei: Was kann „Onkel Kemal“ gegen Erdoğan ausrichten?

Aus Protest gegen Präsident Erdoğan ist der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu zu Fuß von Ankara bis nach Istanbul gelaufen. Zehntausende sind ihm dabei gefolgt – trotz Einschüchterungsversuchen der Regierung. Doch jetzt hat „Onkel Kemal“ ein Problem.
von Paul Starzmann · 7. Juli 2017
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Die türkische Oppositionspartei CHP ist offiziell eine Schwesterpartei der SPD. Trotzdem ist umstritten, wie viel Sozialdemokratie wirklich in der CHP steckt. Zu nationalistisch sind viele ihrer Anhänger, als dass sie – zumindest aus europäischer Sicht – als waschechte Sozialdemokraten durchgehen. Auch der Personenkult, den viele „Kemalisten“ bis heute um ihren Partei- und Staatsgründer Kemal Atatürk betreiben, ist vor allem für deutsche Beobachter befremdlich.

450 Kilometer zu Fuß für die Gerechtigkeit

Dennoch setzen viele Linke in Europa ihre Hoffnung auf die CHP, wenn es um den Widerstand gegen Erdoğan geht – immerhin ist sie die größte Oppositionspartei der Türkei. Ihr Vorsitzender, der Ökonom Kemal Kılıçdaroğlu, hat den Protest gegen die Regierung nun auf die Straße getragen: Am 15. Juni ist er in der Hauptstadt Ankara aufgebrochen, um zu Fuß bis ins 450 Kilometer entfernte Istanbul zu gehen. Einen Tag zuvor war der CHP-Vize Enis Berberoğlu wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Aus Protest gegen das Urteil startete Parteichef Kılıçdaroğlu darauf den „Marsch für Gerechtigkeit“.

Rund 20 Kilometer täglich legte „Onkel Kemal“, wie ihn manche ironisch nennen, zurück – bei 45 Grad Hitze genauso wie bei heftigem Regen. Rund 30.000 Menschen sollen sich inzwischen angeschlossen haben. Obwohl Präsident Erdoğan den Demonstranten Putschabsichten vorwarf und ihnen mit Gerichtsverfahren drohte, ließen sich die Regierungsgegner nicht beirren – am Freitag haben sie nun die Stadtgrenze von Istanbul erreicht.

SPD-Politiker unterstützen Anti-Erdoğan-Protest

Im Ausland werden die CHP-Aktivisten für ihre Aktion gefeiert, viele Medien greifen die Geschichte auf. Auch eine Gruppe von SPD-Bundestagsabgeordneten zeigte sich solidarisch mit Kılıçdaroğlu und seinen Mitstreitern. In einer Erklärung der Menschenrechtspolitiker Bärbel Kofler und Frank Schwabe sowie der Türkei-Expertinnen Dorothee Schlegl und Michelle Müntefering heißt es: „Unser Respekt und unsere Unterstützung gelten dem Mut der vielen Menschen in der Türkei, allen voran dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, die in diesen Tagen für die Demokratie auf die Straße gehen, trotz drohender Repressalien und Verhaftung.“

In den türkischen Medien kam der „Marsch der Gerechtigkeit“ hingegen bislang relativ wenig vor. Kein Wunder: Wer in der Türkei über Kritik an der Regierung berichtet, muss mit langen Gefängnisstrafen rechnen, wie die Fälle von über 100 inhaftierten Journalisten belegen. So beschränken sich inzwischen viele Zeitungen lieber auf politisch unverfängliche Themen. Die Folge: Der Protest des CHP-Chefs Kılıçdaroğlu findet im Ausland fast mehr mediale Resonanz als in der Türkei.

Wächst der Widerstand in Istanbul?

Nun hoffen die Demonstranten der CHP, dass sich mit ihrer Ankunft in der Millionenmetrople Istanbul der Anti-Erdoğan-Protest ausweiten lässt. Immerhin stimmte beim Verfassungsreferendum im April 2017 eine knappe Mehrheit der Istanbuler gegen den Präsidenten. Und spätestens seit den Demonstrationen um den Gezi-Park im Jahr 2013  – als Zehntausende gegen die Regierung auf die Straße gingen – ist klar, wie viel Protestpotential in der Stadt steckt.

Dennoch ist fraglich, ob es Kılıçdaroğlu gelingt, den Protest der CHP über die Parteigrenzen hinweg auszubauen. Zum einen herrscht in der Türkei seit dem Putschversuch im Juli 2016 ein Klima der Angst. Dass der Staat mit aller Härte gegen Oppositionelle vorgeht, schreckt viele Bürger davon ab, ihre Meinung offen kundzutun. Zum anderen hat die CHP mittlerweile das Vertrauen vieler Regierungskritiker verspielt.

CHP und HDP: Türkische Opposition bleibt gespalten

Dass die CHP in der Vergangenheit kurz mit der regierenden AKP kooperierte, haben viele in der Türkei nicht vergessen. Die „Kemalisten“ hatten nach dem gescheiterten Putsch im vergangenen Sommer den Schulterschluss mit Erdoğan gesucht, gaben sich damals staatstragend. Davor hatten sie zugestimmt, als die AKP-Regierung die Immunität von Parlamentsagbeordneten aufheben wollte – was zahlreiche Politiker der links-liberalen, pro-kurdischen Oppositionspartei HDP sofort ins Gefängnis brachte.

Umso schwieriger ist es jetzt, die Spaltung der türkischen Opposition zu überwinden. Zwar besuchte vor einigen Tagen ein Dutzend HDP-Politiker den „Marsch für Gerechtigkeit“. Doch HDP und CHP – beide Schwesterparteien der SPD – marschierten dann doch nicht gemeinsam nach Istanbul. Die beiden Parteien bleiben weiter auf Distanz, lediglich vereint sind sie in ihrer Ablehnung gegenüber der AKP-Regierung. Ob sich so ein breiter, zivilgesellschaftlicher Protest gegen Erdoğan aufbauen lässt, der soziale, ethnische und religiöse Grenzen sowie die Parteizugehörigkeit überwindet, bleibt fraglich.

Eine andere Frage ist, ob der türkische Präsident so einen Protest gegen seine Regierung überhaupt zulassen würde – oder ob er ihn spätestens in der Istanbuler Innenstadt gewaltsam beendet.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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