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Polen: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Im Umgang mit Polen rächt sich, dass die Europäische Union beim Aufbau Osteuropas zu lange allein auf wirtschaftliche Kriterien geachtet hat.
von Peter Riesbeck · 5. Januar 2016
Polen Europa
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Zuerst meldete sich kurz vor Weihnachten Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments. Was sich zurzeit in Polen abspiele, habe den Charakter eines Staatsstreichs, sagte Schulz mit Blick auf die Neuregelung der nationalkonservativen Regierung zur künftigen Besetzung der Richter des Verfassungsgerichts. Später legte die EU-Kommission nach.

Grundsatzstreit: Wahrung der Grundwerte

Zuerst müssten „alle Fragen über die Folgen dieses Gesetzes für die Unabhängigkeit und das Funktionieren des Gerichts vollständig und gründlich untersucht werden“, mahnte der für Grundwerte zuständige Erste Vizepräsident der EU-Kommission, der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans. Der für Medienfragen zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger drohte mit Blick auf das neue Mediengesetz und die staatliche Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Polen mit einer Aufsicht durch die EU. Europa hat einen neuen Grundsatzstreit: die Debatte über die Wahrung der gemeinsamen Grundwerte.

Neu ist das Ganze nicht. Zuletzt hatte sich die EU nach 2013 mit Ungarn auseinandersetzen müssen. Dort griff der rechtspopulistische Regierungschef Viktor Orban ebenfalls in die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und der Medien ein. Die damalige EU-Justizkommissarin Viviane Reding schaltete sich beherzt ein, musste aber auch die europäische Machtlosigkeit erkennen.

Orban gab immer nur formal nach, so wurden die entlassenen Juristen wieder eingestellt, aber nicht als Verfassungsrichter. Es rächt sich nun, was der Historiker Philipp Ther in seinem Buch „Neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ eindrucksvoll beschrieb. Die EU hat nach der Wende vorrangig auf den Aufbau einer streng marktliberalen Ordnung im Osten Europas geschaut, die zivilgesellschaftlichen Elemente aber sträflich vernachlässigt.

Unabhängigkeit von Justiz und Medien als Regel

Dabei sind die Regelungen eindeutig. Bereits 1993 haben sich die EU-Staaten mit Blick auf die Erweiterungen auf die sogenannten Kopenhagener Kriterien verständigt, rechtstaatliche Voraussetzungen wie die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien, die ein Land erfüllen muss, wenn es in die Europäische Union aufgenommen werden will. 2004  - vor der Ost-Erweiterung – hat sich die EU auch einen Rechtstaatsmechanismus verordnet.

Im Falle von Grundrechtsverstößen kann die EU-Kommission in einem dreistufigen Verfahren einschreiten und die Einhaltung der Grundrechte erwirken. Folgt ein Staat diesen Maßgaben nicht, kann die Kommission laut Artikel 7 der EU-Verträge dem EU-Mitglied sogar das Stimmrecht entziehen. Eine extreme Drohung.

Im Normalfall beschränkt sich die EU auf den sanften Hinweis der Kürzung der EU-Fördergelder. Das hat im Falle Orbans gewirkt. Und auch vor zwei Jahren im rumänischen Verfassungsstreit zwischen Regierungschef Victor Ponta und Staatspräsident Traian Basescu. Erfolgreich. Im Amt sind derzeit beide nicht mehr. Europas Hilfestellung also wirkt.

In Polen liegt der Fall ein wenig anders. Nicht rechtlich. Aber politisch. Das Land galt wirtschaftlich als Erfolgsbeispiel der europäischen Integration. Selbst in den Jahren der Finanz- und Eurokrise meldete Polen Wachstumszahlen. Das Land war aber auch als Schlüsselspieler für die Vermittlung der europäischen Politik im Osten Europas wichtig. In der Krise nach der russischen Annexion der Krim, aber auch in der Flüchtlingspolitik.

Sanktionen sind möglich

Die polnische Regierung unter Ewa Kopacz stimmte im vergangenen September der Verteilung der Flüchtlinge per Quote zu. Schon ihr Vorgänger Donald Tusk hatte 2013 im EU-Haushaltsstreit als konzilianter Vermittler überzeugt. Die Beförderung zum EU-Ratspräsidenten 2014 war die Belohnung. Doch fremdelt Tusk im neuen Amt zwischen nationaler Überzeugung und gesamteuropäischer Verantwortung.

Das alles erschwert auch Deutschlands Außenpolitik, Polen fällt als mäßigender Vermittler im Osten Europas aus. Es erschwert aber auch eine Lösung im aktuellen Konflikt. Polens neue Regierung unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski setzt auf eine nationale Revolution. Kritik von deutschen Politikern kommt da gelegen, um nationale Geschlossenheit voranzutreiben. Der polnischen Außenminister Witold Waszczykowski sprach davon, man wolle Polen von „einigen Krankheiten heilen“. Hier spricht ein gefährlich organisches Staats- und Geschichtsverständnis.

Ein Vierteljahrhundert nach der Wende lebt Europa mit einer Art gesellschaftlichem Jetlag. Der Westen Europas setzt auf Freiheit, der Osten auf Sicherheit. Das rüttelt kräftig an Europas Grundfesten. Hilfreich wäre ein Blick zurück. Die offene Gesellschaft hat sich nach 1945 auch in Deutschland erst mühsam (und allmählich) gegen ihre autoritären Feinde durchgesetzt. Europa war dabei eine wichtige Stütze. Deshalb hilft auch ein Blick nach vorn. Die deutsche Politik sollte die Führung im Grundrechtsstreit deshalb besser Timmermans überlassen. Freiheit siegt. Davon können gerade die Polen berichten.

Autor*in
Peter Riesbeck

ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.

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