Opposition in der Türkei: Wie die CHP eine historische Chance verspielt
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Während in der Türkei wegen Corona landesweite Ausgangssperren herrschen, drängt sich die Führung der Opposition in einen Straßenbahnwaggon. In Istanbul eröffneten am Freitag Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, sein CHP-Parteichef Kemal Kilicdaroglu, und die Bündnispartnerin und Chefin der IYI-Partei Meral Aksener nebst Gefolgschaft eine neue Straßenbahnlinie. Die Botschaft: Das Bündnis, mit dem die CHP im Frühjahr 2019 Istanbul und Ankara gewonnen hatte, ist weiterhin stark. Und auch die CHP kann große Infrastrukturprojekte verwirklichen, sonst das Markenzeichen von Erdogans AKP.
Doch von Mindestabstand konnte bei der Zeremonie keine Rede sein, während das Volk wegen enormer Fallzahlen zu Hause bleiben musste. Politisches Feingefühl sieht anders aus. Ein Sinnbild für die Ungeschicklichkeit, die der türkische Oppositionsführer CHP, Schwesterpartei der CHP, derzeit an den Tag legt. Dabei könnte sie viel mehr.
Die CHP zaudert während die Demokratie leidet
Wenn man derzeit regierungsnahe Zeitungen aufschlägt, so ist der politische Teil fast nur mit Kritik an der CHP gefüllt. Statt um fundamentale Diskussionen geht es da um Ablenkungsmanöver, statt um Wirtschaftskrise und Pandemie um die Frage, ob die CHP nur vordergründig Frauen mit Kopftuch toleriere oder der Koran auf Türkisch gelesen werden dürfe. Und Kilicdaroglu, Vorsitzender der SPD-Schwesterpartei CHP, widmet sich all diesen Themen ausführlich, statt anzuprangern, was wirklich im Argen liegt.
Vor einer Woche etwa hat das türkische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das der Zivilgesellschaft die letzte Luft zum Atmen nehmen könnte. Es ermöglicht, dass Vereine und Stiftungen von der Regierung umfangreich kontrolliert und ihre Leiter*innen abgesetzt werden können, wenn gegen sie Ermittlungen wegen Terrorvorwürfen laufen. Auch die Aktivitäten der Organisationen können aus demselben Grund gestoppt werden – nicht einmal ein Gerichtsbeschluss ist nötig.
Da in der Türkei potentiell jeder, der sich oppositionell engagiert, als Terrorist gebrandmarkt werden kann, bedeutet das Gesetz nichts anderes als pure Willkür gegen kritische Organisationen. Vor allem Vereine, die sich für Menschen-, Frauen-, LGBT- und Flüchtlingsrechte einsetzen, sind entsetzt. Aber auch einige islamistisch orientierte Gruppierungen forderten von Erdogan, sein Veto gegen das Gesetz einzulegen.
Die CHP will nicht als PKK- Sympathisantin gelten
Die CHP protestierte im Parlament vehement gegen das Gesetz – zum Topthema machte sie es jedoch nicht. Ebenso protestiert sie nur leise gegen immer lauter werdende Stimmen aus Ankara, die kurdennahe Oppositionspartei HDP wegen ihrer angeblichen Nähe zur PKK verbieten zu lassen. Als der Europäische Menschenrechtsgerichtshof am 22. Dezember entschied, der seit mehr als vier Jahren inhaftierte Ex-HDP-Chef Selahattin Demirtas müsse umgehend freigelassen werden, merkte die CHP an, dass das Urteil für die Türkei bindend sei. Aber zu sehr lehnte sie sich nicht aus dem Fenster – aus Angst, als PKK- Sympathisantin abgestempelt zu werden. Ebenso kritisiert sie nur zaghaft, dass im letzten Jahr duzende HDP-Bürgermeister im Südosten der Türkei abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt wurden. Durch diese Chance verspielt die CHP eine historische Chance.
Die türkische Politikwissenschaftlerin Seren Selvin Korkmaz beschreibt auf dem Portal „Gazete Duvar“ die Lage in der immer autoritärer geführten Türkei mit einem Raum, der sich langsam mit einem giftigen Gas füllt. Eigentlich müsste man schnellstmöglich gemeinsam aus dem tödlichen Raum fliehen und draußen eine gemeinsame Grundlage für die Demokratie zu schaffen: „Doch anstatt dafür zu sorgen, dass die Türkei endlich Luft holen kann, konzentrieren sich die Akteure der Opposition auf Identitätspolitik und trennende Themen – als berechnen sie erst einmal, welcher Fluchtweg besser zu ihrem Klientel passt“, so Korkmaz.
Hoffnungsträger Imamoglu enttäuscht seine Wähler*innen
Erdogans AKP hat seit den letzten landesweiten Wahlen 2018 deutlich an Zustimmung eingebüßt, vor allem Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Inflation wurden ihr zum Verhängnis. Dazu kommt, dass in der Pandemie zwar viele Sektoren ihren Betrieb massiv einstellen mussten, es aber vor allem in der zweiten Welle kaum Hilfen aus Ankara gibt. Doch die CHP konnte das bisher nur bedingt für sich nutzen, bei Umfragen dümpelt sie bei 20 Prozent dahin. Obwohl die Partei im Sommer ein sehr weitsichtiges Manifest vorlegte, in der sie Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und eine friedliche, politische Lösung des Kurdenkonflikts forderte, kann sie dies nur schwach im politische Alltag umsetzen.
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu, nach seiner überraschenden Wahl 2019 schon als potentieller Nachfolger Erdogans gehandelt, konzentriert sich derweil auf Kommunalpolitik. Zu nationalen Themen äußert er sich kaum noch. Das enttäuscht alle Wähler*innen, die sein Versprechen auf eine demokratischere, freiere Türkei ernst nahmen. Allerdings macht er sich damit weniger angreifbar für Attacken der Regierung. Imamoglus Beliebtheitswerte sind landesweit noch immer hoch, ebenso wie die des CHP-Bürgermeisters von Ankara, Masur Yavas. Bei einer aktuellen Umfrage liegt der sogar gleichauf mit Erdogan.
Als vor wenigen Tagen der nationale Mindestlohn 2021 bekanntgegeben wurde – 2825 Türkische Lira monatlich, umgerechnet knapp 315 Euro – verkündete Yavas, in seiner Ankaraer Stadtverwaltungen würde sie mindestens 3100 Lira Lohn zahlen. Imamoglu und Bürgermeister anderer CHP-geführter Großstädte zogen nach. Auch mit diesem Geld kann man in der Türkei keine Familie ernähren. Aber zumindest ist es ein Signal, dass die CHP ihren Anspruch ernst nimmt, eine sozialdemokratische Partei zu sein. Und solche Signale sind es, die türkische Bürger wirklich bewegen.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.