Die Proteste gegen die türkische Regierung gehen auch nach der Räumung des Gezi-Parks weiter – allerdings in anderer Form. Tausende Menschen versammeln sich in Istanbul und anderen Städten zum stillen Protest. Auslöser war der „stehende Mann“ auf dem Taksim-Platz.
Regungslos steht er da, die Hände in den Taschen, den Blick starr geradeaus gerichtet auf das riesige Porträt des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk an der Fassade des ehemaligen Kulturpalasts. Auch als Sicherheitskräfte ihm seinen Rucksack abnehmen und seine Taschen durchsuchen, wendet Erdem Gündüz seinen Blick nicht ab. Da steht er schon einige Stunden auf dem Taksim-Platz, auf dem es in den vergangenen zwei Wochen immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen ist.
Auch Gündüz ist ein Demonstrant. Doch seinen Protest äußert er stumm, einfach, indem er breibeinig da steht und seinen Blick in die Ferne richtet. Nachdem er am Montagabend mit seiner Aktion begann, verbreiteten sich Fotos des „stehenden Mannes“ innerhalb von Stunden in den sozialen Netzwerken. Beim Kurznachrichtendienst Twitter gibt es Tausende Einträge unter den Schlagworten #duranadam (türkisch für stehender Mann) und #standigman.
Diese Präsenz bescherte Gündüz viele Nachahmer. Noch in der Nacht gesellten sich einige hundert Personen zu derm 34-Jährigen, um ebenfalls schweigend zu protestieren. Auch in anderen türkischen Städten gab es stehende Menschen. Im Internet kursieren Aufrufe, an jedem Abend um acht fünf Minuten stehen zu bleiben und zu schweigen. Erdem Gündüz selbst soll die Unterstützung gar nicht recht sein. Seine Aktion sei „nur für eine Person“ soll der Tänzer und Choreograf zu Umstehenden auf dem Taksim-Platz gesagt haben als sich diese zu ihm gesellten.
„Der Damm der Angst ist gebrochen.“
Die neue Form des Protests ist eine Antwort auf das Demonstrationsverbot, das nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks am Sonntagabend erlassen worden war. Bei anschließenden Razzien wurden landesweit einige hundert Menschen festgenommen. Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan sprach am Dienstag vor Anhängern seiner Partei AKP von einem „Sieg“ über die Demonstranten. Gemeinsam mit dem türkischen Volk habe seine Regierung ein „Komplott“ aufgedeckt, das von „Verrätern“ gemeinsam mit „ausländischen Komplizen“ geschmiedet worden sei.
Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, sieht unterdessen kein Ende der Proteste in der Türkei. „Der Damm der Angst ist gebrochen“, sagte Kolat. „Die Proteste und Aktionen werden weitergehen, in welcher Form auch immer.“ Erdem Gündüz, der sein „Stand in“ nach acht Stunden am Dienstag vorerst beendete, könnte also weitere Nachahmer finden.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.