Montenegros SDP-Chef: „Der Westbalkan ist ein natürlicher Teil der EU“
Montenegro soll als nächstes Land in die Europäische Union aufgenommen werden. Warum die EU-Mitgliedschaft für den Balkan-Staat so wichtig ist und wie die EU davon profitiert, erklärt Ivan Vujović, Vorsitzender der dortigen Sozialdemokratischen Partei (SDP), im Interview.
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Montenegrinischer Sozialdemokrat Vujović: Die Europäische Union ist in erster Linie eine Werteunion, der wir als Montenegriner angehören möchten.
„Progressive Mobilisierung“ ist die Überschrift des Kongresses, zu dem sich die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) am Freitag und Samstag in Amsterdam trifft. Regierungschef*innen und Parteivorsitzende aus Europa kommen in den Niederlanden zusammen. Einer von ihnen ist Ivan Vujović, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (SDP) Montenegros. Montenegro soll spätestens 2028 der 28. Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden.
Was erwarten Sie vom SPE-Kongress in Amsterdam?
Die Europäische Union verstärkt ihr Engagement für den Erweiterungsprozess im Westbalkan im Allgemeinen und Montenegro im Besonderen. Unsere SPE-Familie ist seit Jahren eine der treibenden Kräfte dieses Prozesses. Ich hoffe sehr, dass der SPE-Kongress ein starkes Signal aussenden wird, dass alle Länder des Westbalkans ihren Platz in der EU-Familie haben. Trotz vieler spezifischer Probleme ist Montenegro in diesem Prozess nach wie vor Vorreiter, da die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in den letzten zwei Jahrzehnten eine politische Priorität war.
Ivan
Vujović
Die Alternative zu einer Nichtmitgliedschaft in der Europäischen Union ist ein nationalistisches Montenegro. Und das ist keine Option.
Warum ist die EU-Mitgliedschaft für Montenegro so wichtig?
Die Politik auf dem Westbalkan war schon immer eine Politik nationaler und ethnischer Spaltungen. Das führte zu dem Krieg, den wir Anfang der 90er Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens auf dem Westbalkan erlebt haben. Er endete 1999 mit dem Kosovo-Krieg, doch in den Köpfen der Menschen ist dieser Krieg noch immer im Gange – glücklicherweise nicht mit Waffen, sondern mit Worten. In einigen Ländern wie Montenegro kamen leider politische Kräfte an die Macht, die für Nationalismus und Revanchismus stehen. Wir brauchen die Europäische Union, um dieser Entwicklung einen Gegenpol entgegenzusetzen. Unsere Gesellschaft muss umgebaut und als europäische Gesellschaft reformiert werden. Die Alternative zu einer Nichtmitgliedschaft in der Europäischen Union ist ein nationalistisches Montenegro. Und das ist keine Option.
Was wünschen Sie sich außerdem für Montenegro als Teil der Europäischen Union?
Die Europäische Union ist in erster Linie eine Werteunion, der wir als Montenegriner angehören möchten. Es geht um soziale Werte, aber auch um Menschenrechte. Darüber hinaus hoffen wir natürlich, von wirtschaftlichen Aspekten wie freien Märkten und Investitionen zu profitieren. Als EU-Bürger werden wir zahlreiche Freiheiten und Rechte genießen, darunter persönliche, bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte, Datenschutz, Antidiskriminierungsgesetze und die Freiheit, uns in den meisten EU-Ländern frei zu bewegen. Dies wird Montenegro voranbringen, aber wir müssen noch etwas dafür tun.
Und welche Vorteile hätte die EU durch die Mitgliedschaft Montenegros in der Gemeinschaft?
Die Vorteile sind gegenseitig und müssen auch so betrachtet werden. Leider fehlte in der Vergangenheit eine ausreichend strategische Sicht auf den Erweiterungsprozess. Die Balkanregion wurde lange Zeit nicht als geopolitisch zur Europäischen Union gehörendes Gebiet angesehen, doch ohne die Stabilisierung des Westbalkans kann es keine vollständige Stabilität der Europäischen Union geben. Die Länder grenzen an EU-Staaten wie Kroatien oder Slowenien, die früher Teil desselben Landes wie Serbien, Bosnien oder Montenegro waren. Wir teilen viele Werte und eine gemeinsame Kultur.
Meiner Ansicht nach ist der Westbalkan ein natürlicher Teil der EU. Wenn die EU diese Region nicht politisch und rechtlich integriert, werden andere Akteure wie Russland daran interessiert sein, diese Region zu ihrem Einflussbereich zu machen. Dies würde die Stabilität der gesamten Region in vielerlei Hinsicht untergraben. Und durch eine Destabilisierung des Westbalkans könnten diese Akteure die gesamte Europäische Union destabilisieren. Dies würde eine gefährliche Situation schaffen.
Ivan
Vujović
Die SDP ist die einzige Partei, die sich seit 35 Jahren kontinuierlich für Integration, Unabhängigkeit, die Zivilgesellschaft und die NATO-Mitgliedschaft Montenegros einsetzt.
Wie beurteilen Sie das Handeln der montenegrinischen Regierung in diesem Zusammenhang?
Leider agieren einige Parteien unserer Regierung völlig gegen das EU-System. Aus taktischen Gründen würden sie selbst nie zugeben, gegen die EU zu sein, aber tatsächlich verhalten sie sich so und zerstören Montenegros Beziehungen zu unseren Nachbarn, insbesondere zu Kroatien. Es gibt enge Verbindungen zu Aleksandar Vučić in Serbien. Deshalb stärkt diese Regierung nationalistische politische Parteien in Montenegro. Wenn Montenegro einen Schritt in Richtung EU macht, werden sie alles dafür tun, dass das Land in der nächsten Phase zwei Schritte zurück macht.
Ihre Partei, die SDP, ist seit der letzten Wahl 2023 nicht mehr im Parlament vertreten. Wie wollen Sie beim nächsten Mal wieder erfolgreich sein?
Die SDP ist die einzige Partei, die sich seit 35 Jahren kontinuierlich für Integration, Unabhängigkeit, die Zivilgesellschaft und die NATO-Mitgliedschaft Montenegros einsetzt. Wir sind praktisch Pioniere der EU-Integration. Leider haben wir vor zwei Jahren bei den Wahlen den Parlamentsstatus um nur 0,01 Prozentpunkte verpasst. Nur wegen 50 fehlender Stimmen konnten wir nicht ins Parlament einziehen.
In der Zwischenzeit haben wir eine Bewegung namens „Europäische Allianz“ gegründet und agieren heute als sozialdemokratische Partei auf der politischen Bühne als europäische Bewegung. In den letzten 18 Monaten hatten wir viele Kommunalwahlen, bei denen wir sehr gute Ergebnisse erzielt haben, und sind derzeit die zweitstärkste Oppositionsstruktur in Montenegro. Wir planen, im Rahmen dieser europäischen Allianz weiterzuarbeiten, und wir gelten als die authentischste europäische politische Kraft in Montenegro. Durch diese Vereinbarung werden wir mit der Zeit sicherlich immer stärker, und ich bin sicher, dass wir nach den Wahlen 2027 wieder an die Macht kommen werden.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.