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Menschenrechtsverletzungen: „Autoritäre Staaten nutzen die Krise als Vorwand“

Autoritäre Staaten nutzen die Corona-Krise als Vorwand, um Menschenrechte einzuschränken. Das kritisiert der menschenrechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion Frank Schwabe. Zudem fordert er mit Blick auf die Pandemie ein Ende des Impfnationalismus.
von Jonas Jordan · 19. April 2021
Frank Schwabe gehört dem Bundestag seit 2005 an. Zuletzt war er menschenrechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. In seinem Wahlkreis Recklinghausen I kam er auf 41 Prozent der Stimmen.
Frank Schwabe gehört dem Bundestag seit 2005 an. Zuletzt war er menschenrechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. In seinem Wahlkreis Recklinghausen I kam er auf 41 Prozent der Stimmen.

Amnesty International schreibt in seinem Jahresbericht, Corona habe eine Krise der Menschenrechte ausgelöst. Hat Sie die Meldung überrascht?

Nein. Wir hatten schon vor Corona eine Krise der Menschenrechte. Während der Pandemie gibt es bestimmte notwendige und demokratisch legitimierte Maßnahmen, um Gesundheitsschutz zu betreiben. Aber es gibt autoritäre Staaten, die sowieso Menschenrechte und Bürger*innenrechte unterdrücken. Sie nutzen die Krise als Vorwand, um diese Rechte weiter einzuschränken.

Sie haben gefordert, man müsse nun hellwach sein und verhindern, dass im Schatten der Pandemie Menschenrechtsverletzungen zunehmen. Wie kann das gelingen?

Schon einfach, indem man darüber redet. Wir brauchen einen kritischen Diskurs darüber, was notwendig ist, um die Gesundheit zu schützen und was zu weit geht. Wir müssen gleichzeitig dafür sensibilisieren, dass beispielsweise das, was an Einschränkungen in Deutschland stattfindet, nach einer Verbesserung der Situation wieder verändert wird.

Amnesty International bemängelt unter anderem, dass Beschäftigte im Gesundheitsbereich zu wenig geschützt seien. Braucht es da mehr globale Solidarität?

Aktuell ringen alle um Impfstoffe, aber es gibt Teile der Welt, die ungerechtfertigterweise ziemlich abgeschnitten sind von der Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Das ist weder gerecht noch aus egoistischen Motiven sinnvoll. Wenn wir uns nicht um eine schnelle Impfung für alle bemühen, bekommen wir das in einer globalisierten Welt durch Mutationen, die zu uns kommen, heimgezahlt. Es gibt im Moment eine Tendenz zum Impfstoffnationalismus, aber am Ende werden wir lernen, dass es so nicht funktioniert. Denn wir können uns nicht vom Rest der Welt abschotten.

Eine Forderung ist, die Patente für Impfstoffe zur Bekämpfung von Covid-19 freizugeben, um den globalen Süden zu unterstützen. Wie stehen Sie dazu?

Ich weiß nicht, ob eine komplette Freigabe der Patente der richtige Weg ist, aber wenn das nicht der richtige Weg ist, muss man einen anderen aufzeigen. Denn im Moment haben wir zu wenige Kapazitäten. Eine Möglichkeit wäre, den Impfstoffherstellern ihre Lizenzen abzukaufen, um Impfstoff staatlich produzieren zu lassen. Die marktwirtschaftliche Antwort auf die Pandemie ist nur eingeschränkt tauglich.

In welcher Weltregion ist die Lage mit Blick auf die Verletzung der Menschenrechte aktuell am dramatischsten?

Unabhängig von der Pandemie sticht die Lage in Myanmar besonders hervor, wo das Militär mit einer Brutalität vorgeht, die man sich kaum auszumalen vermag. Wir beobachten auch eine immer aggressivere Vorgehensweise der Chinesen bei der Missachtung der Menschenrechte. Was mit den Uiguren passiert, ist eine besondere Dimension von Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt all das, was im Zuge von Kriegen und Bürgerkriegen passiert. In Syrien und Jemen sind Kriegsverbrechen an der Tagesordnung.

Macht es Sie mit Blick auf Europa wütend, wenn ein EU-Mitgliedsstaat wie Ungarn, die Pandemie als Vorwand nutzt, um Grundrechte wie die Pressefreiheit einzuschränken?

Ja, genau. Man könnte die Augen schließen und auf die Landkarte tippen. Dann würde man auf die Staaten kommen, die sowieso Menschrechte und Bürger*innenrechte mit Füßen treten oder einschränken. Ungarn gehört ganz gewiss dazu. Auch dem Europarat gehört mit Aserbaidschan ein Land an, in dem Corona als Vorwand genutzt wurde, um verschärft gegen die Opposition vorzugehen.

Welche Rolle spielen 75 Jahre nach ihrer Gründung eigentlich noch die Vereinten Nationen bei der Durchsetzung von Menschenrechten?

Sie spielen eine große Rolle, aber sie können nur so stark sein wie Länder bereit sind, bestimmte Hoheitsrechte abzutreten und sich auf internationale Standards zu verständigen. Wenn die einzelnen Staaten ihren Gedanken mit Füßen treten, muss man sich nicht wundern, dass alle multilateralen Organisationen geschwächt sind. Das betrifft auch die Vereinten Nationen. Deswegen darf man aber nicht aufgeben, sondern muss nach neuen Ansätzen suchen. Die gibt es beispielsweise mit der neuen US-Regierung, die klare Signale aussendet. Die müssen wir aufgreifen und dafür sorgen, dass bestimmte Standards durchgesetzt werden. Der UN-Menschenrechtsrat mit seinen Sonderberichterstatter*innen schaut sich die Lage in den einzelnen Ländern an. Wichtig ist, diese Menschenrechtsverletzungen jeden Tag anzuprangern und sie zu benennen.

Allerdings gerät gerade der UN-Menschenrechtsrat häufig in die Kritik.

Der UN-Menschenrechtsrat ist eine neue Institution, die durchaus Durchschlagskraft hat. Sie hat die Möglichkeit, UPR-Verfahren zu starten. Das sind regelmäßige Überprüfungsverfahren zu einzelnen Ländern. Im Menschenrechtsrat sind 47 Staaten vertreten, das sind ungefähr ein Viertel aller Länder weltweit. Wenn alle Weltregionen gleichermaßen abgebildet werden sollen, führt das dazu, dass auch Länder wie China oder Saudi-Arabien darin vertreten sind. Man kann das als absurd kritisieren, weil diese Länder Menschenrechte mit Füßen treten. Gleichzeitig ist die Welt, wie sie ist, und ich weiß nicht, wie effizient es wäre, dort nur Länder zu haben, die über jeden Verdacht erhaben sind. Deswegen kritisiere ich vieles, das dort stattfindet, auch das Handeln einzelner Akteure. Institutionell macht der dort vertretene Ansatz aber Sinn.

Ist die Situation von Geflüchteten, insbesondere an den EU-Außengrenzen, zu sehr aus dem Blick geraten?

Ja. Ebenso wie die Rechte von Frauen, die Rechte der LGBTQI, die Rechte von Sinti und Roma, die Rechte von Obdachlosen, weil wir von morgens bis abends über Corona reden und versuchen, die Gesellschaft so weit zu regulieren, dass diese Pandemie eingehegt werden kann. Dadurch verstärken sich soziale Probleme. Besonders leiden arme Familien, auch Menschen, die vorher schon einen schwierigeren Zugang zu Bildung hatten. Geflüchtete gehören zu den schwächsten überhaupt. In der Krise verschärfen sich die Abwehrmechanismen. Was im Mittelmeer stattfindet und durch Griechenland betrieben, von Frontex gedeckt wird, ist ein unglaublicher Skandal, der zu wenig Aufmerksamkeit hat. Wenn wir hier nicht aufpassen, wird die Genfer Flüchtlingskonvention am Ende Makulatur sein. Ein zivilisatorischer Fortschritt, den wir uns historisch als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus erarbeitet haben.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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