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Labour: Warum Keir Starmer nach dem Parteitag wieder fester im Sattel sitzt

Zuletzt war Großbritanniens Regierungschef Keir Starmer auch innerparteilich arg in Bedrängnis geraten. Doch auf dem Labour-Parteitag gelang ihm der Befreiungsschlag. Bei der kommenden Parlamentswahl dürfte es nun auf einen Zweikampf hinauslaufen.

von Michèle Auga · 2. Oktober 2025
Der britische Regierungschef Keir Starmer hält sich mit der linken Hand am Redepult fest, während er mit dem rechten Zeigefinger in die Kamera zeigt.

Hat nach dem Labour-Parteitag wieder gut lachen: Großbritanniens Regierungschef Keir Starmer

Keir Starmer versteht es, die Weltpolitik nach London zu holen. Sei es Europas Zukunft, der Krieg in der Ukraine oder der geschickte Einsatz des Königshauses, um den selbsternannten Monarchen aus Washington zu besänftigen: Auf dem außenpolitischen Parkett macht dem britischen Premier kaum jemand etwas vor, wie inzwischen selbst Kritiker*innen einräumen.

Den Vertrauensvorschuss des fulminanten Wahlsiegs verspielt

Innenpolitisch jedoch stand der Labour-Chef zuletzt erstaunlich schwach da. Sein erstes Regierungsjahr, geprägt von handwerklichen Fehlern und einer für viele Beobachter*innen unglaublichen Ignoranz gegenüber den eigenen Wählergruppen, quittierten die Brit*innen mit miserablen Zustimmungswerten. Vor dem Parteitag in Liverpool rieben sich viele Genoss*innen die Augen: Wie konnte man den Vertrauensvorschuss eines fulminanten Wahlsiegs und das politische Gewicht einer absoluten Mehrheit im Unterhaus derart verspielen?

Ein Kommunikationsvakuum in der Downing Street nutzte Starmers größter Widersacher, der Brexit-Veteran und Reform UK-Chef Nigel Farage, wochenlang mühelos aus. So stiegen nicht nur seine eigenen Beliebtheitswerte, sondern es verstärkte sich auch der Eindruck, die britische Gesellschaft neige zu seinen Positionen in Fragen von Asyl, Migration und Integration. Farages Agitation für eine gnadenlose „Re-Migrationspolitik“ und sein nationalistischer Aufruf in den sozialen Medien, die englische Flagge gegen vermeintliche Feinde zu verteidigen, fielen auf fruchtbaren Boden. Dieser war von ehemaligen Tory-Größen wie Priti Patel oder Suella Braverman jahrelang vorbereitetet worden.

Parteitag mit nahezu perfektem Drehbuch

Die Grenzen dessen, was über Geflüchtete oder andere Minderheiten öffentlich gesagt werden konnte, hatten sich bereits unter den konservativen Regierungen weit ins rechtspopulistische Lager verschoben. Doch auch unter den Sozialdemokraten wirbt inzwischen eine Gruppe von Abgeordneten unter dem Banner von „Blue Labour“ für die Übernahme des kompromisslosen dänischen Migrationskurses. Linke Parteikritiker*innen wiederum sammelten sich kurz vor Beginn des Jahrestreffens unter einem neuen Dach namens „Mainstream“. In einer Art Palastrevolution forderten sie offen den bei vielen Mitgliedern beliebten Bürgermeister von Manchester, Andy Burnham.

Unter Druck geraten, legten Starmers Spin-Doktoren wie aus dem Tiefschlaf erwacht ein nahezu perfektes Drehbuch für den Parteitag vor. Mit gleich drei Regierungschefs – dem Australier Anthony Albanese, dem Kanadier Mark Carney und der Dänin Mette Frederiksen – präsentierten sie die Crème de la Crème der globalen progressiven Elite als eine Art Vorgruppe im Herzen von Westminster, noch bevor der Parteitag überhaupt eröffnet war. Das Signal war eindeutig und die Auswahl nicht von ungefähr: Alle Drei hatten sich zuletzt mit einer erfolgreichen Wahlkampagne gegen verschiedene Rechtsauslegerparteien durchgesetzt.

Die Konservativen sind nicht mehr Labours Gegner

Vor allem das Programm der dänischen Sozialdemokraten galt den Labour-Strategen zuletzt als Nonplusultra im Kampf gegen die Extremisten. Von Albanese und Carney hingegen wollte man lernen, wie sich mit einer zukunftsgerichteten, positiven Erzählung Wählergruppen zurückgewinnen lassen. Ausgerüstet mit diesem geistigen Proviant verließ der Labour-Tross unter dem Motto „With a litte help of my friends“ die Hauptstadt Richtung Norden, um in der Stadt der Beatles die Reihen zu schließen und sich der britischen Öffentlichkeit als die bessere Alternative zu Reform UK zu präsentieren.

„Erinnert sich noch jemand an die Tories?“, rief Starmer in den Konferenzsaal und löste große Schadenfreude aus. Niemand glaubt mehr ernsthaft daran, dass es die Konservativen sein würden, mit denen man es in den 2026 bevorstehenden Regional- und Kommunalwahlen zu tun haben werde.

Es folgte Starmers Versuch, seiner Partei wieder eine Art Programmatik zu geben, obwohl er, wie Weggefährten berichten, „Visionen hasst“. Die in Liverpool gesetzten Impulse blieben jedoch nicht ohne Widerspruch. Mit für ihn ungewohnt aggressiver Rhetorik griff Starmer einerseits direkt Nigel Farage an und nannte ihn einen gesellschaftlichen Spalter. Andererseits lief er damit Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten und zugleich die Reform-UK-Wähler mitzubeschimpfen.

Starmer taktiert, hat aber keine Strategie

Dem Handbuch von Albanese und Carney entlehnt, setzte der Premier unter dem Parteitagsmotto „Renew Britain“ bewusst auf eine positive Erzählung: gesellschaftliches Engagement, die helfende Hand des Nachbarn, die einigende Kraft des Fußballs. Zugleich betonte er, Großbritannien sei nicht „broken“, also kaputt, wie Farage es gern behaupte, sondern habe enormes Potenzial. Inkonsistent wirkte jedoch die anschließende Liste all dessen, was an Infrastruktur in den kommenden Jahren unter großen Anstrengungen und schmerzhaften finanziellen Einschnitten repariert werden müsse – ein Widerspruch, den politische Kommentator*innen sofort als Schwäche ausmachten.

Starmer steckt in einem Dilemma: Führt er die Partei zu weit nach rechts, wandern seine Wähler*innen zu Reform ab, weil sie lieber das Original wählen. Kränkt er hingegen die Befindlichkeiten seiner akademisch-urbanen Anhängerschaft, wenden sie sich Liberaldemokraten, Grünen oder gar dem exkommunizierten Labour-Chef Corbyn zu. Dieses vorsichtige Austarieren der politischen Waage bleibt für den Juristen Starmer die größte Herausforderung. Nach einer stringenten Strategie wirkt das bislang nicht, eher nach bloßem Taktieren.

Eine Umfrage unterstützt Starmers Kurs

Denn während seine Innenministerin Shabana Mahmoud aus dem Lager von Blue Labour in einer Rede vor dem staunenden Plenum sehr ambitionierte Verschärfungen des Aufenthaltsrechts ausrief, die zwar den Gerechtigkeitssinn der Brit*innen besänftigen sollen, einer gerichtlichen Überprüfung aber erst noch standhalten müssen, ließ Starmer anderen Kabinettsmitgliedern in Interviews freien Lauf, um das Herz der Partei zurückzuerobern.

Ed Miliband durfte weiter die Klimaziele beschwören, Rachel Reeves kündigte eine von vielen sehnsüchtig erhoffte Erhöhung der Kinderfreibeträge an, Wes Streeting kämpfte laut hörbar für die Rechte von LGBTQI-Personen und Starmer selbst schließlich für die Einhaltung der Normen des Europäischen Gerichtshofs.

Allen Unkenrufen zum Trotz, so Starmer, seien die Brit*innen keine rassistische, herzlose Gesellschaft. Im Plenum ließ er kleine Plastikfähnchen verteilen und beschwor „britische Werte“: Mitgefühl, Anstand und Toleranz. Rückendeckung erhielt er von einer Umfrage unter mehr als 45.300 Menschen, die über 80 Problemfelder abfragte. Demnach bereitet den Bürger*innen zwar vor allem die unkontrollierte Migration Sorgen, doch ebenso weit oben auf der Prioritätenliste stehen die hohen Lebenshaltungskosten, die Energiepreise und die Wohnungsnot.

Der gemeinsame Feind schweißt Labour zusammen

Diese konkreten Probleme will Labour in den verbleibenden vier Jahren der Legislatur weiter angehen. Doch „Deliverism“, das bloße Abarbeiten von To-do-Listen, wird breite, emotional aufgewühlte Wählerschichten kaum besänftigen. Was den Menschen bislang fehlt, ist ein Bild davon, in welchem Land sie künftig leben sollen. Hier griff Starmer erneut auf seine Vorbilder im Commonwealth zurück und beschwor einen „progressiven Patriotismus“. Der müsse als Vision genügen, denn einen „Starmerism“ werde es mit ihm nicht geben.

Der Labour-Tross ist zurück in London, und Starmer sitzt wieder fester im Sattel. Der gemeinsame Feind schweißt die Partei zusammen. Endlich, so ein EU-freundlicher Delegierter, nenne Starmer Ross und Reiter und mache Farage für die Folgen des Brexits verantwortlich. Endlich, so andere Stimmen, habe die Partei wieder zu ihrer Seele gefunden und den offenen Rassismus klar benannt. Nach viel Kritik an seinem „Politbüro“, das ihn angeblich zu sehr abgeschirmt habe, könne „Keir wieder Keir“ sein.

Entscheidener Stimmungstest im Mai 2026

Eines hat Starmer deutlich gemacht: Bei den nächsten Wahlen wird die Entscheidung zwischen ihm und Nigel Farage fallen. Diese bewusst gewählte Dichotomie zeigt Wirkung. In einer aktuellen Umfrage sprachen sich 45 Prozent für Starmer aus, nur 33 Prozent für Farage. Noch höher liegt der Wert (71 Prozent) unter jenen Wähler*innen, die 2024 Labour gewählt hatten, der Partei zuletzt aber den Rücken kehrten. Am höchsten fällt die Zustimmung bei denjenigen aus, die zwischenzeitlich zu Grünen oder Liberaldemokraten gewechselt waren: 95 Prozent.

Im Mai 2026 stehen in Schottland und Wales Regionalwahlen an – ein entscheidender Stimmungstest für die Labour-Regierung. Schneidet Starmers Partei dort schlecht ab, könnte das seinen politischen Handlungsspielraum erheblich einschränken und Zweifel wecken, ob er sein Programm zur Erneuerung Großbritanniens bis zum Ende der Legislatur wirklich durchsetzen kann. Seine Zukunft wird also nicht auf der Weltbühne entschieden. Auf dem innenpolitischen Parkett hat er dennoch spürbar an Souveränität gewonnen.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Michèle Auga

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Großbritannien.

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