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Kühnert: „Es geht um Menschenrechte, nicht um einen Gnadenakt“

Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert hat private Seenotretter in Malta besucht. Im Interview mit dem „vorwärts“ berichtet er von ihrer Arbeit. Von Europa fordert er mehr Druck auf die maltesische Regierung.
von Johanna Lehn · 8. August 2018
Kevin Kühnert
Kevin Kühnert

Herr Kühnert, Sie haben die Crew der Sea Watch 3 in Malta besucht. Was sind Ihre Eindrü­cke von dort?

Neben der Sea Watch-Crew habe ich auch andere Seenotretter getroffen. Wir Jusos haben gemeinsam mit Seenotretterorganisationen überlegt, wie wir ihnen helfen können – vor al­lem bei ihrem akutesten Problem, dass sie den Hafen nicht verlassen und somit nicht retten dürfen. Schnell haben wir entschie­den: Wenn wir politisches Lobbying dafür betreiben wollen, müssen wir sehr präzise wissen, was genau los ist und dort hin fahren. Wir haben dort das Boot kennenge­lernt und ich habe den Eindruck gewonnen: Sie haben das hochprofessionell aufgebaut. Das sind keine Hobby-Segler. Am selben Tag, an dem ich da war, kam die offizielle Bestätigung aus den Niederlan­den – unter deren Flagge sie fahren –, dass es keine Beanstandungen gibt. Die Einwände der maltesischen Regie­rung in dieser Hinsicht sind vom Tisch gewischt. Ob sie den Hafen verlassen können, ist spätestens jetzt eine rein politische Frage.

Aktuell darf die Sea Watch 3 den Hafen trotz der Bestätigung der Niederlande den Hafen nicht verlassen. Eine Einigung ist also nicht in Sicht?

Dieses Spiel kann ewig so weiter gespielt werden. Wer es darauf anlegt, wird immer Möglichkei­ten finden, die Crew festzuhalten und hier noch ein Protokoll und da noch ein Gutachten zu verlangen. Ich verstehe einen Teil der Bedenken der maltesischen Regierung. Malta ist der kleinste Mitgliedsstaat der EU, man hat dort eine riesige Angst davor, dass Italien und andere in Malta den nützlichen Idioten gefunden haben und sich zurücklehnen, sobald die Regierung den Hafen öffnet. Die Konsequenz kann aber auch nicht sein, dass alle Augen und Ohren verschließen und nichts passiert. Die Leidtragenden sind diejenigen, die zu Hunderten und Tausenden auf dem Meer sind. Und Menschenleben müssen immer Priorität haben.

Was hat die Crew berichtet, was gibt es für Hindernisse, abgesehen davon, dass sie den Hafen nicht verlassen dürfen?

Ein Freiwilliger der Seefuchs-Crew, einem anderen Rettungsschiff, erzählte: Spätestens in dem Moment, in dem man das erste Mal jemanden aus dem Wasser zieht, wisse man ein­fach, dass man etwas Richtiges tue, etwas, das menschlich geboten sei. Dann sei es völlig egal, was darüber gesagt und berichtet wird. Eine Herausforderung ist, immer wieder Leute zu finden, die sich Urlaub nehmen, mitunter ihren Job aufgeben, ein Urlaubssemes­ter machen, um helfen zu können. Denn was vielen gar nicht so bewusst ist: Fast alle, die dort als Seenotretter unterwegs sind, sind Ehrenamtliche. Ein weiteres Hinder­nis ist es, genügend Spendengelder zu bekommen.

Sea-Watch fordert eine gemeinsame europäische Seenotrettung – wie stehen Sie dazu?

Ich möchte noch einmal unterstreichen: Es ist nicht der Lebenstraum dieser Ehrenamtlichen, diese Arbeit in 40 Jahren noch zu machen. Sie sind notgedrungen ein Lückenfüller für eingestellte Missio­nen der EU-Staaten wie Mare Nostrum und andere. Das Ziel muss sein, dass die Aufgabe, die zivile Seenotretter gerade übernehmen, europäisch, nationalstaatlich oder an­ders organisiert wird. Diese Forderung erheben wir auch als Jusos. Das behebt aber das akute Problem im Hier und Jetzt nicht, weil die Organisation durch die EU eine Weile dauern wird. Und es entledigt niemanden von der Verantwortung, jetzt unmittelbar eine Lösung für die Menschen zu finden, die sich in diesen Tagen und Stunden auf den Weg zu einem friedlicheren Ort ma­chen.

Libyen gilt nicht als sicherer Zufluchtsort, Seenotretter werden dennoch häufig angewie­sen, Flüchtende in libysche Häfen zu bringen. Braucht es mehr als eine europäische Rege­lung?

Es ist recht viel geregelt. Die Frage ist nur: Halten sich alle daran? Dass letztens ein italieni­sches Schiff Menschen aufgesammelt und nach Libyen gebracht hat, war seit mehreren Jah­ren das erste Mal ein klarer Verstoß gegen das Nichtrückführungsgebot, also dass Leute wider­rechtlich in ein unsicheres Land, in dem Fall nach Libyen gebracht wer­den. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Libyen ist eine Hülse von einem Staat, es ist höchstens noch ein Staatsgebiet. Menschen dorthin zu verfrachten heißt, sie der Rechtlosig­keit auszuset­zen. Zu sagen, es sei alles geregelt und es gebe internationales Recht, führt in die Irre. Denn das hat auf libyschen Boden faktisch keine Bedeutung, weil niemand das Recht durchsetzen kann.

Sind die Vorwürfe gegen private Organisationen wie Sea-Watch oder S.O.S. Mediterranée Ihrer Meinung nach berechtigt?

Dieser Vorwurf ist an Absurdität kaum zu überbieten. In Malta ist mir noch einmal klar gewor­den: Die Menschen, die auf diesen Schiffen helfen, sind nicht die versammelte linke Szene aus Deutschland, die dort hinfährt, um ein Hobby auszuüben. Sie haben häufig keine jahrzehntelange politische Prägung hinter sich. Eigentlich alle erzählen von Dokumentatio­nen im Fernsehen oder Reportagen in Zeitungen, die sie so gepackt haben, dass sie sich dachten: „Wie kann ich eigentlich noch ruhig zuhause sitzen, während das vor unserer Haustür passiert?“

Bestehen also keine Absprachen zwischen den Seenotrettern und den Schleppern?

Gut 30 Meilen vor der libyschen Küste befinden sich Ölplattfor­men. Werden die Boote in der Nacht losgeschickt, sagen die Schlepper wohl häufig: „Die Lichter da hinten am Horizont, das ist Europa.“ Das Motorboot hat gerade genügend Sprit, um bis zu diesen Plattformen zu kom­men. Dort sehen die Flüchtenden dann: Das ist gar nicht Europa. Die Schlepper wollen Geld verdienen. Ihnen ist es egal, ob jemand auf dem Mittelmeer wartet, um die Menschen aufzusammeln oder nicht. Sobald das Boot losfährt, haben sie ihr Geld verdient. Insofern braucht es da keine Absprachen.

Was fordern Sie bzw. die Jusos jetzt von der SPD und der Bundesregierung, vielleicht auch von der Europäischen Union?

Zu allererst müssen die Seenotretter angehört werden. Sie wissen sehr genau, was sie tun und können präzise berichten, wie die Situation ist. Als Nächstes muss ihnen geholfen wer­den, dass sie den Hafen verlassen können. Dafür braucht es vor allem Druck  von den großen eu­ropäischen Staaten auf die maltesische Regierung. Auch von Deutschland. Gleichzeitig muss sich um die Ver­teilung der Geflüchteten gekümmert werden. In Deutschland gibt es viele Kommunen, die Kapazitäten haben und Menschen aufnehmen wollen. Es ist ein politi­scher Job, die Geflüchte­ten dort unterzubringen. Wir brauchen eine europäische Lösung, notfalls erst einmal nur mit einzelnen Staaten. Es darf aber nicht von Fall zu Fall entschieden werden. Es geht um Menschen­rechte und nicht um einen Gnadenakt. Die Politik hat die Pflicht, sich da­rum zu kümmern, dass die Geflüchteten aufgenommen und ordentlich untergebracht wer­den. Deutsch­land hat die Kapazitäten und die Ressourcen. Von der Bundesregierung und auch von der SPD erwarte ich dazu eine klare Haltung. Bei der CSU kann man lange warten. Von ihr werden diese Signale nicht kommen.

Wie sieht es mit der Bekämpfung von Fluchtursachen aus?

Es ist auch wichtig, über Fluchtursachen und deren Bekämpfung zu sprechen. Die Mittelerhö­hung im Haushalt von Heiko Maas ist gut, reicht aber allein noch nicht. Auch mit besseren wirtschaftlichen Bedingungen wie der Schaffung von Arbeitsplätzen wird man das nicht hinbekommen kön­nen. Diese Menschen fliehen nicht nur, weil sie keinen Job haben. Sie fliehen aus Gründen des Klimawandels, weil sie keine Lebensgrundlagen mehr finden. Dass so etwas passiert, kann Politik nicht wegbeschlie­ßen.

Fliegen Sie noch einmal nach Malta?

Wir versuchen es. Gerne mit einer größeren Delegation, mit politisch Verantwortlichen. Die Organisationen vor Ort sind extrem offen, einige haben auch explizit an Horst Seehofer die Einladung ausgesprochen um sich von den Arbeitsbedingungen und der Vertrauenswürdig­keit der Crews zu überzeugen. Dass private Organisationen einen klareren Wertekompass haben als der Innenminister in einem demokratischen Rechtsstaat, ist bedenklich. Soweit ich weiß, hat er sich nicht zurückgemeldet auf diese Einladung.

Autor*in
Johanna Lehn

studiert Politikwissenschaft und Soziologie und schreibt für den „vorwärts“.

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