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Kopf-an-Kopf-Rennen beim EU-Referendum in Großbritannien

Am Tag der Abstimmung liegen Befürworter und Gegner eines Brexits gleichauf. Das könnte ausgerechnet an der Kampagne der EU-freundlichen Labour-Party liegen: Nur die Hälfte ihrer Wähler hat bis jetzt mitbekommen, dass Labour für den Verbleib in der EU votiert.
von Tina Stadlmayer · 23. Juni 2016
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Am heutigen 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Je nach Umfrage liegen mal die Befürworter, mal die Gegner eines Brexits vorn. Etliche Briten sind bis zuletzt unsicher, wie sie abstimmen werden. Zu verwirrend klingen in ihren Ohren die Aussagen der Politiker. Beide Seiten verbreiteten falsche oder schwer belegbare Zahlen und Horrorszenarien. Das rügte sogar der Finanzausschuss des Parlaments.

EU-Referendum: Wähler sind verwirrt

Verwirrung und Skepsis sind groß: nicht nur bei weniger gebildeten Leuten, sondern auch bei Akademikern. Fest steht, dass jüngere Leute eher fürs Bleiben votieren werden. Nach einer Umfrage des Instituts YouGov sind 70 Prozent der 18- bis 39-Jährigen für den Verbleib in der EU. Wer gern ins Ausland reist, dort vielleicht sogar studiert hat, ist gegenüber der EU positiv eingestellt und hat weniger Vorbehalte gegenüber Einwanderung. Die Meinungsforscher prognostizieren aber auch, dass ein Teil der jüngeren EU-Freunde aus Bequemlichkeit oder weil sie gerade unterwegs sind, nicht zur Wahl gehen wird.

Die Brexit-Befürworter sind dagegen sehr engagiert und motiviert zu wählen. Für viele „Brexeteers“ geht es gar nicht in erster Linie um Europa, sondern gegen „die Mächtigen“ in London und Brüssel. Sie fühlen sich überfordert vom rapiden Wandel, fürchten sich vor Einwanderung und Globalisierung und wünschen sich die „gute alte Zeit“ zurück. Diese meist älteren und auf dem Lande lebenden Briten schimpfen, dass aus Brüssel nichts Gutes komme und Großbritannien sich von niemanden etwas vorschreiben lassen dürfe, schon gar keine Gesetze.

Anti-EU-Haltung im rechten Lager

Besonders verbreitet ist die Anti-EU-Haltung bei den Anhängern der rechtspopulistischen Ukip-Partei. Von den konservativen Tory-Anhängern votieren nach einer Umfrage des Instituts ORB 60 Prozent für den Brexit, bei Anhängern von Labour und den Liberaldemokraten sind es nur etwa 25 Prozent, bei den Wählern der in Schottland regierenden Schottischen National Partei SNP sogar noch weniger.

Während die Tories gespalten sind und etliche Kabinettsmitglieder für „Vote Leave“ kämpfen, zieht die Labour-Partei weitgehend an einem Strang. Das ist umso erstaunlicher, als Parteichef Jeremy Corbyn als EU-Skeptiker bekannt ist. Er kritisiert die EU-Verträge als zu wirtschaftsliberal, aber er betont auch, dass es Verbesserungen bei den Arbeitnehmerrechten und dem Umweltschutz gegeben habe. Sein Credo lautet heute: „Nur innerhalb der EU können wir mehr Reformen erreichen.“ Doch Corbyn fordert eine vollkommen andere Richtung bei der EU-Reform als der britische Premierminister David Cameron: mehr Arbeitnehmerrechte statt mehr Deregulierung.

Labour-Chef Corbyn jetzt für EU

Der Labour-Vorsitzende stimmte beim Referendum 1975 gegen die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – was der damaligen Labour-Linie entsprach. Inzwischen hat er sich zu einer EU-freundlichen Haltung durchgerungen. „Großbritannien muss in der EU bleiben, weil dies der beste Rahmen für Handel und Kooperation im 21. Jahrhundert ist“, sagt er. „Milliarden-Investitionen und Millionen Jobs hängen an unserer Beziehung zur EU.“  Doch das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP lehnt Corbyn kategorisch ab, und den Umgang mit Griechenland bezeichnete er als „ökonomischen Kolonialismus“.

Parteiinterne Kritiker wie der ehemalige Innenminister Alan Johnson werfen ihm vor, nicht offensiv genug gegen den Brexit zu kämpfen. Corbyn kontert, seine Kampagne sei in den sozialen Medien und bei jüngeren Menschen außerordentlich erfolgreich. Sogar sein Vorgänger Ed Miliband tritt inzwischen mit ihm gemeinsam auf. „Dass er in der Vergangenheit Zweifel an der EU geäußert hat, macht sein Votum für den Verbleib erst recht überzeugend“, sagt Miliband über Corbyn.

Labour-Wähler schlecht informiert

Trotzdem machen sich die Leiter der Remain-Kampagne Sorgen: In einem internen Papier, das der Zeitung „The Guardian“ zugespielt wurde, heißt es, nur die Hälfte der Labour-Wähler habe erkannt, dass sich ihre Partei für den Verbleib in der EU ausgesprochen habe.

Fest steht, dass die Regierung im Falle eines Brexits erst neue Verträge mit der EU aushandeln müsste, um weiterhin die Vorzüge des Binnenmarktes zu genießen. Deshalb weisen Wirtschaftswissenschaftler darauf hin, dass sämtliche Analysen zu den Folgen des Brexits nur auf vagen Annahmen basieren. Solche Erklärungen verunsichern die Briten natürlich. Es ist also kein Wunder, dass etliche noch unsicher sind, wie sie heute abstimmen werden.

Autor*in
Tina Stadlmayer

lebt in London und berichtet für deutsche Medien über Politik, Soziales und Kultur in Großbritannien.

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