Kolumbien und Corona: Wunsch nach Waffenruhe
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Kolumbien liegt, was die Ausbreitung des Virus angeht, im lateinamerikanischen Mittelfeld. Die Krise trifft hier auf strukturelle Grundprobleme, die auch in anderen Ländern des globalen Südens auftreten. Dazu gehören vor allem ein weitgehend privatisiertes und überlastetes Gesundheitssystem, sozialstaatliche Unterversorgung in vielen Regionen des Landes und die Vulnerabilität großer Bevölkerungsteile, die von Armut betroffen sind, knapp über der Armutsgrenze leben, im informellen Sektor arbeiten oder schlecht bezahlte Care-Arbeit leisten. Die Gefängnisse sind, wie auch im Rest Lateinamerikas, wegen der Sicherheitspolitik der harten Hand bis zu 200 Prozent überbelegt und weisen mangelnde sanitäre und humanitäre Standards auf. Das führte bereits zu Rebellionen, die am Wochenende mit 23 Toten endeten.
Präsident Ivan Duque hätte auch ohne Corona-Krise alle Hände voll zu tun. Drei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den FARC sind viele Regionen des Landes von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen betroffen, und es gibt eine anhaltende Mordserie an Aktivistinnen und Aktivisten sowie Ex-FARC-Kämpfern. 100 Gemeinden und ethnische Organisationen baten nun wegen des Coronavirus bewaffnete Kämpfer und die Regierung um Waffenruhe.
Pause der Proteste gegen Duque
Ende letzten Jahres war das politische Leben nicht nur in der Hauptstadt von einer Protestwelle geprägt. Hundertausende, quer durch alle Schichten und politischen Richtungen, gingen wochenlang auf die Straße. Sie forderten politische und soziale Reformen, geeint durch die Kritik am harten, in vielen Politikfeldern rückwärtsgewandten Kurs der Regierung. Gäbe es das Virus nicht, müsste Duque sich derzeit mit den skandalösen Vorwürfen beschäftigen, bei seiner Wahl Stimmen gekauft zu haben.
Zwar hat Duque – als Technokrat mit 13 Jahren Erfahrung bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank – die Krise im Blick. Sein Pech ist, dass die 2019 gewählten regionalen Regierungschefinnen und -chefs ihm immer einen Schritt voraus sind. Allen voran die Bürgermeisterin von Bogotá Claudia López. Mit einer Mischung aus kümmernder Vorsorge und knallharter Pädagogik probte sie bereits am vergangenen Wochenende die Ausgangssperre, die der Präsident erst Samstagnacht für das gesamte Land verhängte. Während der politischen Turbulenzen kam es jedoch auch zum erstaunlichen Schulterschluss zwischen Erzfeinden wie dem linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro und dem rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, die beide in gleichem Maße für schnell wirksame Maßnahmen der Regierung warben.
Infektionsrate höher als in Italien
Rüsten die Ausgangssperre und die landesweiten Erfahrungen mit Dengue-, Zika- und Chikungunyafieber-Epedemien zum Kampf gegen die Pandemie? Die anfängliche Ansteckungskurve verläuft steiler als in Italien. Und es gibt noch mehr Grund zur Sorge. Bei der Corona-Pandemie handelt es sich nicht um ein nationales öffentliches Gesundheitsproblem. Es geht jetzt darum, eine vielschichtige humanitäre Krise in einer Situation abzuwenden, in der die Wirtschaft in schlechter Verfassung ist. Die Arbeitslosigkeit hatte 2020 mit 13 Prozent einen historischen Höchststand der letzten zehn Jahre erreicht und der kolumbianische Peso ist aufgrund der gesunkenen Rohstoffpreise stark eingebrochen. Die Armutsbevölkerung und die im informellen Sektor Tätigen dürften nicht zur Telearbeit fähig sein, und selbst wenn, haben sie keine Krankenversicherung, falls sie erkranken. Dies betrifft Frauen in besonderem Maße. Sie haben keinerlei Rücklagen und müssen häufig teure Mikrokredite abzahlen.
Selbst die 9,8 Millionen formell Beschäftigten sind zurzeit gefährdet. Seitdem die Regierung Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus ergreift, reagieren kolumbianische Unternehmer unterschiedlich, Massenentlassungen sind keine Seltenheit. Universitäten und Gewerkschaften rufen nach tripartiten Schlichtungskommitees zwischen Staat, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften, bisher aber ohne Erfolg.
Die Grenzen zu den Nachbarländern sind dicht, nationale und internationale Flüge gestrichen. Besonders problematisch ist die Schließung der Grenze zu Venezuela, das bereits vor dem Ausbruch des Virus unter einer eklatanten wirtschaftlichen und sozialen Notlage litt. Bis zur Schließung der Grenze passierten sie täglich 60 000 Menschen, versorgten sich mit Lebensmitteln und Medikamenten. Viele der Migrierenden leben auf der Straße. Sie sind besonders in den Grenzregionen abhängig von temporären Hilfseinrichtungen, die ihnen Nahrung, Unterkunft und Medizin vermitteln. Viele dieser nationalen und internationalen Einrichtungen wurden allerdings schon geschlossen. Hilfsorganisationen berichten, dass Venezolaner bereits jetzt hungern.
Kristina Birke Daniels leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien. Zuvor war sie für die FES in Indien und Marokko tätig.