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Keine Wechselstimmung an der Weichsel

von · 6. Oktober 2011
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Denn selten schien der Ausgang einer nationalen Wahl in Polen so vorhersehbar wie in diesem Herbst: Die regierende Bürgerplattform, so prognostiziert es jede Umfrage, wird trotz spürbarer Verluste wieder stärkste Partei werden. Die oppositionelle PiS ist die unangefochtene zweite Kraft. Bei niedriger Wahlbeteiligung würde sie der PO zwar gefährlich nahe kommen ohne sie allerdings zu überholen.

Neben diesen beiden Parteien werden nur dem derzeitigen kleinen Koalitionspartner - der bäuerlichen Polnischen Volkspartei (PSL) - und dem Bund der demokratischen Linken (SLD) Chancen auf den Einzug ins Parlament eingeräumt. Knapp könnte auch die Bewegung Palikots die Fünfprozenthürde überspringen. Die antiklerikal-populistisch ausgerichtete Partei um den Medienstar Janusz Palikot zieht durch ihr unkonventionelles Auftreten derzeit vor allem die Faszination der jüngsten Wählergruppe auf sich.

Jugend in prekärer Lebenssituation
Erstmals seit Zusammenbruch des Kommunismus würde damit die bereits bestehende Regierung im Amt bestätigt. Dabei ist der Enthusiasmus über die Errungenschaften des Kabinetts von Premierminister Donald Tusk nicht besonders hoch. Bisher hat die PO ihre politische Existenzberechtigung insbesondere aus der Konkurrenz zur PiS bezogen. Wichtigster Inhalt ihrer Wahlkämpfe war die Beendigung der Kaczyński-Administration.

In diesem Jahr kann die Bürgerplattform - ausgestattet mit der alleinigen Regierungsverantwortung - nicht auf diese erprobte Wechsel-Rhetorik zurückgreifen. Sie muss sich vielmehr als Garant eines bewahrenswerten Status Quo empfehlen. Dabei ist gerade die Lebenssituation der nach 1980 Geborenen in Polen prekär. Diese "Babyboom-Generation" hat trotz guter Ausbildung wenig Chancen auf dem heimischen Arbeitsmarkt und erhält oft nur schlechte Arbeitsverträge mit Bezahlung weit unter dem Durchschnittseinkommen und ohne nennenswerten Kündigungsschutz.

Erstaunlicherweise wirken sich diese Schwierigkeiten unter den Berufseinsteigern bislang nicht negativ auf die gesamtgesellschaftliche Stimmung aus. Das mag damit zusammenhängen, dass die frustrierten polnischen Jugendlichen im Gegensatz zu ihren Altersgenossen in Madrid oder London in die innere Emigration flüchten, anstatt ihre Frustration in organisierten Massenprotesten oder gewaltsamen Straßenschlachten in die Öffentlichkeit zu tragen.

Zufriedenheit mit dem bisher Erreichten
Insgesamt bewerten die Polen ihre ökonomische Situation erstaunlich optimistisch. Auch das Gefühl der Sicherheit in der eigenen Nachbarschaft und vor allem im eigenen Land hat sich in den letzten 10 Jahren mehr als vervierfacht. So zufrieden wie noch nie zeigen sich die Polen dementsprechend mit ihrer persönlichen Lebenslage. Die überwiegende Mehrheit beschreibt ihre Zufriedenheit allerdings als Ergebnis eigner Anstrengungen ohne einen wesentlichen Anteil staatlicher Institutionen.

Genau diese Tatsache aber könnte nach Ansicht des Warschauer Politologen Wojciech Łukowski der Bürgerplattform den Machterhalt sichern. Aufgrund der relativen Zufriedenheit mit dem bisher Erreichten tendieren die Polen erstmals seit 1989 mehrheitlich zur Beibehaltung des politischen Status Quo. Das schwerer kalkulierbare Risiko eines Regierungswechsels wollen sie nicht in Kauf nehmen. Auf diese Weise sind die Zustimmungswerte für die Regierung in den letzten Monaten zwar merklich gesunken.

Mangel an Alternativen
Eine tatsächliche Wechselstimmung kommt aber nicht auf. Auch mangelt es an Alternativen: Die zweitstärkste Kraft, PiS, ist personalpolitisch nahezu ausgebrannt. Eine ganze Reihe ihrer Spitzenpolitiker ist im April 2010 in Smolensk ums Leben gekommen. Zugleich hat Jarosław Kaczyński im Laufe der letzten Jahre seine ärgsten Konkurrenten und Kritiker entweder aus der Partei geworfen oder aber ins Europaparlament abgeschoben. Eine weitere Gruppe größtenteils profilierter Abgeordneter verließ die Partei im vergangenen Herbst im Streit um die inhaltliche Ausrichtung.

Den Sozialdemokraten unter der Führung ihres Vorsitzenden Grzegorz Napieralski fehlt der rote Faden in ihrer Kampagne. An einem Tag geht Napieralski ein Wahlbündnis mit den Arbeitgebern des exklusiven Business Center Clubs ein. Bei nächster Gelegenheit präsentiert er ein Wahlprogramm, das eine Anhebung des Mindestlohns, Laptops für jeden Schüler und eine Absenkung der Mehrwertsteuer verspricht. Eine glaubwürdige Finanzierung seiner Vorschläge präsentiert er nicht. Dementsprechend fatal ist mittlerweile Napieralskis Erscheinungsbild in den Medien. Er wirkt blass, entrückt wie eine Sphinx und lächelt oft nur inhaltsleer in die Kameras. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen haben die Sozialdemokraten mittlerweile jeglichen Einfluss verloren.

Angesichts der so übersichtlichen Gemengelage leidet das öffentliche Interesse am Urnengang. Hatte die politische Mobilisierung vor vier Jahren mit einer Wahlbeteiligung von 53,8 Prozent noch eine Höchstmarke erreicht, so befürchten Wahlforscher, dass am 9. Oktober nicht einmal mehr 40 Prozent der Stimmberechtigten den Weg ins Wahllokal auf sich nehmen werden.

Dabei bringt der bevorstehende Wahlakt zumindest eine beachtenswerte Neuerung: Erstmals kommt bei der Wahl zum Parlament eine gesetzlich verordnete Quote zur Anwendung, die Frauen ein Mindestmaß von 35 Prozent der Listenplätze zuschreibt. Allerdings trifft das Gesetz keine Aussage darüber, an welche Stelle der Liste die Frauen platziert werden. Ob also zukünftig tatsächlich mehr Frauen im Parlament vertreten sind, bleibt ab zuwarten.

Knut Dethlefsen und Julia Walter:
Die Dritte Republik stabilisiert sich. Polen vor der Parlamentswahl 2011. - Berlin : Friedrich-Ebert-Stiftung, Referat Internat. Politikanalyse, 2011. ISBN 978-3-86872-911-5
http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/08500.pdf

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