International

Im Norden viel Neues

von Wolfgang Biermann · 15. Oktober 2012

Ein Jahr vor der Wahl bemüht sich Jens Stoltenberg um neuem Schwung. Mit einer umfassenden Kabinettsumbildung reagiert der norwegische Ministerpräsident auf anhaltende Kritik. Reicht das für die Wiederwahl?

Mit der Mobilisierung der gesamten norwegischen Gesellschaft für mehr Demokratie, Toleranz und Offenheit als Antwort auf den rechtsextremistischen Terroranschlag und Massenmord an Jugendlichen im Sommer 2011 wurde Ministerpräsident Jens Stoltenberg zum „Landesvater“ aller Norweger und Einwanderer. Am ersten Gedenktag in diesem Jahr vereinten sich die Sprecher der christlichen, muslimischen, jüdischen und anderer Religionsgemeinschaften, das Königshaus und die politischen Parteien in Moscheen und auf öffentlichen Plätzen hinter ihrer gemeinsamen Botschaft, die die 18-jähhrige Jungsozialistin Helle Gannestads so auf den Punkt brachte: „Wenn ein Mann so viele Schmerzen zufügen kann, stell Dir vor, wie viel Liebe wir gemeinsam schaffen können."

Dieses Gefühl des Zusammenhalts hielt insbesondere in der jungen Generation Norwegens auch während des Prozesses gegen den Massenmörder Andreas Breivik, rund ein Jahr nach dem Terroranschlag, an. Als Breivik zur Begründung seines Massenmordes an 87 Jugendlichen auf die „multikulturell-kommunistische Indoktrination der Jugend“ durch das auf Veranstaltungen immer wieder gesungene Lied „mitt lille land“ (Mein kleines Land) verwies, protestierten bei strömendem Regen zig tausende Jugendliche vor dem Gericht und sangen eben dieses Lied des Sängers Ole Paus.

Bericht der „22-Juli-Kommission“

Nachdem Breivik im August zur Höchststrafe von 21 Jahren und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wurde, ist es ruhig um den Mörder geworden.

Aber im Jahr seit dem Terroranschlag wurden erhebliche Schwächen in Polizei und Regierung bekannt: Unmittelbar nach dem Terroranschlag beauftragte Jens Stoltenberg eine unabhängige „22. Juli Kommission“, schonungslos alle Probleme zu untersuchen, die dem Terroristen seinen Bombenanschlag und anschließenden Massenmord auf der Insel Utøya erleichtert hatten.

Die Übergabe des Berichts an den Ministerpräsidenten  erfolgte am 13. Juli dieses Jahres. Der anschließend veröffentlichte Bericht und die Empfehlungen der Kommission unter Leitung der Unternehmensberaterin Alexandra Bech Gjørv entlarvten dramatische Schwächen in der Struktur und Zusammenarbeit nicht nur der Polizei, sondern auch der Regierung.

Schlammschlachten auf Norwegisch

Das Ergebnis war eine regelrechte Schlammschlacht der Opposition gegen die Regierung, der Rücktritt des Polizeipräsidenten und die Vermischung mit einer Reihe von Schwächen der Regierung in anderen Bereichen, z.B. mit dramatischen Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen.

Trotz der durchaus erfolgreichen Reformpolitik der rot-grünen Regierung (wie die Bewältigung der Finanzkrise, Gleichstellung, 40-Prozent-Quote in Leitungsgremien der Wirtschaft, fast hunderprozentige Versorgung mit Kindertagesstätten für Kinder über einem Jahr ) geriet die Regierung Stoltenberg in die Defensive. Umfragen zeigten eine Mehrheit der Konservativen (Høyre) und der rechtspopulistischen „Fortschrittspartei“ (FrP), und die eher „linkschristliche“ Christliche Volkspartei (KrF) öffnete sich für dieses rechte Bündnis.

Obendrein blockierte der „Sicherheitsbeauftragte“ für Regierungsakten zunächst die Veröffentlichung der Interviews von Ministern mit der 22.-Juli-Kommission.

Obwohl Jens Stoltenberg selbst sein Interview mit der Kommission sofort veröffentlichte, warfen Medien und Opposition ihm vor, er habe die Kernaussagen der Minister zu den Problemen nach dem Terroranschlag unter Verschluss gehalten.

Stoltenberg-Regierung versucht Befreiungsschlag

Die Regierung – vertreten durch Kulturministerin Anniken Huitfeldt –  versuchte den ersten Befreiungsschlag, indem sie am 19. September alle vertraulich gestempelten Aussagen von Ministern und Staatssekretären gegenüber der „Untersuchungskommission 22. Juli 2012“ im Internet veröffentlichte.

Zwei Tage später bildete Jens Stoltenberg seine Regierung umfassend um:

  • Jonas Gahr Støre wurde neuer Gesundheitsminister. Der bisherige Außenminister und beliebteste Minister der Regierung gilt weiter als Kronprinz von Jens Stoltenberg – allerdings hängt seine weitere Karriere auch davon ab, ob er die erneute Krise im Gesundheitswesen, v.a. beim neuen Groß-Krankenhaus „Akershus" erfolgreich bewältigt. Jedenfalls äußerte die gesamte Opposition hohe Erwartungen an ihn.
  • Espen Barth-Eide wurde neuer Außenminister – bisher war er Verteidigungsminister, früher Staatssekretär im Außenministerium. Er war lange Leiter eines Forschungsprojektes über UN-Operationen beim außenpolitischen Forschungsinstitut NUPI. 
  • Anne-Grete Strøm-Erichsen wurde (wieder) Verteidigungsministerin. Sie war bisher Gesundheitsministerin, während sie in diesem Amt „Probleme“ (s.o.) hatte, galt sie in ihrem Amt als Verteidigungsministerin als “sehr erfolgreich“.
  • Anniken Huitfeldt wurde neue Arbeitsministerin – bisher war sie Kultur- und Integrationsministerin. Die bisherige Arbeitsministerin Hanne Bjurstrøm wurde entlassen.
  • Hadia Tajik, Stortings-Abgeordnete, wurde neue Kultur- und Integrationsministerin. Sie ist eine bekannte und fähige AP-Politikerin mit pakistanischem Hintergrund. Tajik ist daher auch besonders attraktiv für Wählerstimmen aus der relativ großen pakistanischen Einwandererbevölkerung in Norwegen.

Verwaltungsministerin Rigmor Aasrud blieb im Amt, obwohl die Opposition und sogar der Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung „Dagsavisen“ ihren Rücktritt forderten – weil ihr Versäumnisse bei den Sicherheitsmaßnahmen im Regierungsquartal vorgeworfen werden, die teilweise aber auch der Verwaltung des „Statsministerskontor" angelastet werden, nicht zuletzt um Jens Stoltenberg zu belasten.

Debatte beruhigt sich

Alles in allem gelang es Jens Stoltenberg, die politische Auseinandersetzung zu beruhigen. Er berief Minister, deren fachliche Qualifikation auch von der Opposition anerkannt wird - was insbesondere für Støre und Tajik gilt. Jedoch sind die Probleme im Gesundheitswesen nicht kurzfristig zu lösen, und die Opposition beißt sich möglicherweise an zwei verbliebenen Ministern der Arbeiterpartei fest:

  • zum einen an Justizministerin Grete Faremo, die kurz nach dem Attentat von Utøya berufen wurde und auch verantwortlich ist für die Polizei und ihre anstehende Reform,  
  • zum anderen an Handels- und Wirtschaftsminister Trond Giske, dem z.B. in der staatlichen Eigentumsgesellschaft ENTRA „Vetternwirtschaft“ vorgeworfen wird.

Darüber hinaus wird die Opposition versuchen, die Autorität des „Kronprinzen“, des neuen Gesundheitsministers Jonas Gahr Støre zu schwächen, der mit den kurzfristig kaum lösbaren, aber schwerwiegenden Problemen im Gesundheitswesen zu tun hat. 

Ein Jahr vor der Parlamentswahl befindet sich Norwegen also bereits in einem aggressiven Vorwahlkampf. Die Bevölkerung hat sich an vorbildliche rot-grüne Reformen, Vollbeschäftigung und weiter wachsenden Wohlstand gewöhnt. Aber während die konservative Partei mit ihrer angeblichen Rolle beim Aufbau des nordischen Wohlfahrtsstaates prahlt, mobilisiert die „Fortschrittspartei“ die populistischen Strömungen am rechten Rand: mit Stimmungen gegen Einwanderer, die sich nicht genügend „integrieren durch Unterordnung unter norwegische Werte“ sowie dem Werben für die Reduzierung von Steuern und Abgaben, der Privatisierung sozialer Dienste und mehr Verbrauch der (gesetzlich auf maximal vier Prozent  des Staatshaushaltes begrenzten) Einnahmen aus Öl und Gas.

Jens Stoltenberg braucht also im kommenden Jahr mehr Unterstützung im Geiste Willy Brandts, damit der rechte Rand im Norden nicht zu einem reaktionären Keil gegen das nordische Modell werden kann.


 

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