Hochspannung in der Türkei vor Neuwahl in Istanbul
Er stammt aus einer konservativen Familie von der türkischen Schwarzmeerküste, er ist rhetorisch gewandt und charismatisch. In diesen Tagen ist er in der Türkei omnipräsent, bei seinen Wahlkampfveranstaltungen löst er Begeisterungsstürme aus, Millionen von Menschen schauen sich seine Reden im Fernsehen an.
İmamoğlu wirkt wie der junge Erdoğan
Die Rede ist nicht von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, sondern vom Istanbuler Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu, doch die Ähnlichkeit der beiden Politiker frappierend. Selbst İmamoğlus Stimmtonus ähnelt dem Erdoğans. Viele Türken erinnert İmamoğlu, 49 Jahre alt, an den jungen Erdoğan, der ebenfalls einst als ehrgeiziger Kommunalpolitiker in Istanbul seine steile Karriere begann.
İmamoğlu, der für die republikanische Volkspartei CHP antritt, einer Schwesterpartei der SPD, gilt sowohl für sekuläre als auch für religiöse Bürger als wählbar. Das macht ihn für die Regierungspartei AKP so gefährlich.
Neuwahl schadet Image der AKP
Deren Gegenkandidat Binali Yıldırım ist von anderem Kaliber: erfahren aber weniger charismatisch, dazu streng religiös. Er war jahrelang Verkehrsminister, dann Premierminister und zuletzt Parlamentspräsident, er gilt als Handlanger Erdoğans. Die Istanbuler Kommunalwahl vom 31. März verlor Yıldırım trotz all seiner Macht über Medien und Staatsresourcen mit hauchdünner Differenz.
Die oberste Wahlbehörde entschied auf Druck der AKP, die Wahl wiederholen zu lassen – mit der Begründung, es habe Regelwidrigkeiten an den Urnen gegeben. Das Image der AKP hat davon großen Schaden genommen, glaubt Bekir Ağırdır, Chef des angesehenen Meinungsforschungsinsitutes KONDA: „Jeder weiß, dass die Wahl durch politischen Druck wiederholt wurde. Es ist unmöglich, dass der Gerechtigkeitssinn und das Gewissen der Gesellschaft davon unbeeinflusst bleiben. Seit diesem Moment hat die AK Partei verloren“, so der Meinungsforscher gegenüber türkischen Medien.
Bekanntheit İmamoğlus enorm erhöht
Die Annulierung der Wahl sorgte auch dafür, dass İmamoğlu seine Bekanntheit enorm erhöhen und sein Profil als Kämpfer um Recht und Gerechtigkeit schärfen konnte. Besonders bei jungen Wählern gilt er als großer Hoffnungsträger, in den sozialen Medien wird er gefeiert. Fast alle Oppositionsparteien haben diesmal auf eigene Kandidaten verzichtet, um İmamoğlu zu unterstützen; noch gestern erklärte der inhaftierte, ehemalige Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP Selahattin Demirtaş, dass seine Partei İmamoğlu die Stimme geben werde, insbesondere wegen dessen versöhnlicher, friedensnahen Haltung. Dementsprechend sehen die meisten Meinungsumfragen İmamoğlu mit zwei bis vier Prozentpunkten vorne.
Entschieden ist die Wahl aber trotzdem noch lange nicht. Denn die AKP hat ihre Wahlkampfstrategie seit dem 31. März stark geändert. Während sie im Frühling eine harte Rhetorik pflegte, bei der alle politischen Gegner als Terroristen und Verräter diffamiert wurden, schlagen sie nun mildere Töne an. Vor allem kurdische Wähler versucht man zu gewinnen. Yıldırım sprach vor der Presse neulich gar von „Kurdistan“ - für türkische Nationalisten ein Politikum. Yıldırım vollführt dabei einen Drahtseilakt, denn schließlich will er auch seinen Koalitionspartner, die ultrarechte MHP und deren Wähler, nicht verprellen.
Erdoğan: nur eine Kommunalwahl
Erdoğan derweil hält sich in diesem Wahlkampf zurück. Während er vor der Kommunalwahl am 31. März in Istanbul auf Plakaten und Wahlkampfveranstaltungen omnipräsent war, als stehe er selber zur Wahl, verzichtet er diesmal auf Massenveranstaltungen mit seiner Teilnahme. Manche Analysten werten es als Zeichen, dass Erdoğan im Falle einer Wahlniederlage unbeschadet davonkommen und die Schuld auf seinen Kandidaten Yıldırım schieben will. Oder aber eine Taktik, um die Wahl kleinzuhalten. Während er den 31. März noch als „Entscheidung um den Fortbestand der Nation“ deklarierte, erklärte er jetzt, „es gehe ja nur um eine Kommunalwahl“.
Ein weiteres Beispiel für die neue Stratgie der AKP war das Fernsehduell zwischen beiden Kandidaten am letzten Sonntag. 17 Jahre lang hatte die AKP solche Duelle abgelehnt, erst auf wiederholte Aufforderung von İmamoğlu und TV-Moderatoren hatte Yıldırım schließlich eingelenkt. Bei dem fast dreistündigen Live-Programm wirkten beide Kandidaten ebenso wie der als regierungskritisch bekannte Moderator nervös. Keinem der Kandidaten gelang es, das Duell wirklich für sich zu entscheiden, auch wenn die Medien beider Seiten hinterher das Gegenteil behaupteten.
TV-Duell meidet heiße Eisen
Während AKP-Kandidat Yıldırım den Zuschauer wirkliche Begründungen und Beweise schuldig blieb, warum die Wahl nun wiederholt wird, wirkte İmamoğlu teilweise gereizt, antworte nicht selten schwammig. Derweil versuchte Yıldırım ihn als Lügner darzustellen, der Zahlen verdrehe, einen Gouverneur beleidigt habe und unhaltbare Anschuldigungen aufstelle. Die wirklich großen Themen, wie etwa Korruption und undemokratische Mittel der AKP, kamen dabei nicht zur Sprache.
Gegen Ende des Gespräches versuchte İmamoğlu, zu seiner friedlichen Haltung zurückzufinden, es wurde gewitzelt und gelacht. Schließlich bat İmamoğlu um ein gemeinsames Foto mit Yıldırım und beiden Ehefrauen. Ein hübsches Bild, dass vielen Türken, die sich nach Versöhnung und Frieden sehnen, gefallen haben dürfte. Aber zugleich vermittelt es auch den Eindruck, diese Wahl finde unter demokratischen, fairen Bedingungen statt. In der von Erdoğan autoritär regierten Türkei bleibt das leider ein Wunschbild.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.