Frankreich: Schulterschluss nach dem Schock
Es war ein ungewöhnliches Bild, das sich am Donnerstagmorgen vor dem Elysée-Palast bot: Präsident François Hollande empfing seinen Vorgänger Nicolas Sarkozy. Der sozialistische Amtsinhaber und sein konservativer Erzfeind redeten eine dreiviertel Stunde lang im Büro des Staatschefs. Sie wollten damit auch ein Zeichen setzen: Frankreich steht zusammen nach dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitung "Charlie Hebdo" mit zwölf Toten, der vermutlich von Islamisten verübt wurde. "Wir müssen uns bewusst machen, dass unsere beste Waffe die Einheit der Nation ist", sagte Hollande in seiner TV-Ansprache an die Franzosen am Mittwochabend. Den Donnerstag erklärte er zum nationalen Trauertag – eine seltene Geste, die zuletzt nach dem 11. September 2001 gezeigt wurde.
Mittags hielten die Pariser Busse und Bahnen eine Minute inne, um der Toten zu gedenken. Schulen, Behörden und Betriebe legten eine Schweigeminute ein und sogar die Nachrichtensender blieben punkt zwölf Uhr für 60 Sekunden still. Dutzende versammelten sich vor dem Redaktionsgebäude von "Charlie Hebdo" in Paris und auf dem Platz der Republik. Hunderttausend waren es am Mittwochabend gewesen, die überall in Frankreich schweigend der Opfer gedacht und Kerzen angezündet hatten. "Je suis Charlie" ("Ich bin Charlie") lautet das hunderttausendfach in den sozialen Netzwerken verbreitete Motto.
Es ist mehr als ein Appell, die Pressefreiheit zu verteidigen. Denn "Charlie Hebdo" war mehr: "Sie haben auf Charlie gezielt. Das heißt auf Toleranz, die Ablehnung des Fanatismus, die Herausforderung für den Dogmatismus", schreibt die Zeitung "Libération" in ihrem Leitartikel. Sie fordert eine Mobilisierung aller Anhänger der Republik, "die ohne Umschweife den Gegner benennen: den Terrorismus, nicht den Islam."
Republikanischer Marsch am Sonntag
Für Sonntag hat Regierungschef Manuel Valls zu einem "großen republikanischen Marsch" in Paris aufgerufen. Auch Sarkozy hat Valls eingeladen, an seiner Seite der Opfer des Angriffs zu gedenken. Die Chefin des rechtsextremen Front National (FN), Marine Le Pen, bekam bisher keine Einladung. Wohl, weil die Toleranz, für die "Charlie Hebdo" stand, nicht die Sache des FN ist. Bereits wenige Stunden nach der Bluttat begann die Partei, das Attentat für ihre Zwecke auszuschlachten. "Wir haben vor so einem Ereignis schon lange gewarnt. Das war zu erwarten", sagte FN-Ehrenpräsident Jean-Marie Le Pen dem "Figaro". Er schließt sich selbst aus der Bewegung der nationalen Einheit aus. "Ich habe keine Lust, die Handlungen einer Regierung zu unterstützen, die ohnmächtig und inkohärent ist angesichts des Problems, das ganz offensichtlich eng mit der Masseneinwanderung zusammenhängt, die unser Land seit 40 Jahren erfährt."
Der Vater von Marine Le Pen, die als Parteichefin seit vier Jahren versucht, dem FN ein gemäßigtes Image zu geben, wurde bereits mehrfach wegen antisemitischer und rassistischer Hetze verurteilt. So warnte er 2004 vor einer Machtübernahme der Muslime in Frankreich, das mit fünf Millionen die größte muslimische Gemeinde Europas hat. Seine Tochter sorgte ebenfalls für Empörung, als sie die Straßengebete der Muslime mit der Nazi-Besatzung im Zweiten Weltkrieg verglich.
Le Pen für Wiedereinführung der Todesstrafe
Ihre Partei, die bei der Europawahl im vergangenen Jahr bereits stärkste Kraft wurde, hofft nach dem Angriff auf "Charlie Hebdo" auf noch mehr Zulauf. "Es ist noch ein bisschen früh, aber es kann Auswirkungen bei den Wahlen geben, denn wir haben immer Strenge gezeigt gegenüber dem radikalen Islam in Frankreich", bemerkte FN-Anwalt Wallerand de Saint-Just.
Doch genau vor der Strenge, die die rechten Kräfte nun fordern, warnen die Gemäßigten im Land. "Das ist eine Falle", schreibt der frühere sozialistische Justizminister Robert Badinter in "Libération". Er setzte 1981 die Abschaffung der Todesstrafe durch, deren Wiedereinführung Marine Le Pen nun fordert. "Gegen Terroristen die Todesstrafe einzusetzen bedeutet für eine Demokratie, sich deren Werte zu eigen zu machen", sagte Badinter damals vor der Nationalversammlung. Seine Worte haben am Mittwoch eine neue Aktualität bekommen.
Christine Longin begann ihre journalistische Laufbahn bei der Nachrichtenagentur AFP, wo sie neun Jahre lang die Auslandsredaktion leitete. Seit vier Jahren ist sie Korrespondentin in Frankreich, zuerst für AFP und seit Juli für mehrere Zeitungen, darunter die Rheinische Post.