Flüchtlingsschutz im Nordirak: Provisorisch und noch nicht bereit für den Winter
Matsch. Überall Matsch. Kalter Schlamm. Morastige Erde, die an Schuhen verklumpt, die bei jedem Schritt an den Beine hochspritzt, die dafür sorgt, dass sich die Füße nie warm anfühlen, in der dennoch Kinder spielen, einige tragen sogar nichts als Plastiksandalen. Und auch das: Nieselregen und manchmal auch richtige Regengüsse, die den lehmigen Boden zwischen den Zelten noch mehr aufweichen. Die Zelte selber – viel zu dünn, um vor der Kälte zu schützen. Nachts sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Die Menschen frieren erbärmlich in ihren Notunterkünften, Behausungen, die manchmal einen solchen Namen nicht verdienen.
In aller Hast waren im Sommer diese Lager im Nordirak aufgebaut worden, von Hilfsorganisationen der UNO, von kirchlichen Organisationen, von kurdischen Freiwilligen. Damals im August waren die Menschen zu zehntausenden geflohen vor den Kämpfer der Terrororganisation IS, gerade noch entkommen, getrieben von panischer Angst. Viele Christen unter ihnen in erster Linie aber irakische Jesiden, Angehörige einer religiösen Minderheit, die nicht nur von den Extremisten unter den Muslimen beschuldigt werden, sie beteten den Teufel an.
Gerade den Gläubigen dieser uralten Religion im Nahen Osten war klar: „Fallen wir in die Hände dieser Killer, dann ist unser Leben nicht mehr viel wert.“ Etwa die Hälfte der im Irak von den Islamfanatikern Gejagten hatte schließlich im kurdischen Teil des Landes so etwas wie Schutz gefunden, wurde einquartiert in solche Zeltstädte, in halbfertigen Rohbauten, in Schulen. „Alles provisorisch“, hatten die Verantwortlichen damals verkündet, „bis zum Einbruch des Winters seid ihr alle in kältesicheren Unterkünften.“ Doch die Sommerhitze ging, die Winterkälte kam, trotzdem lebt auch heute noch fast die Hälfte dieser Entwurzelten in den Provisorien.
Überforderter UNHCR
Besonders hart trifft es die Jesiden. Haben die weltweit vernetzten christlichen Organisationen und Kirchen dank großer ausländischer Hilfe die meisten ihrer Glaubensgenossen menschenwürdig unterbringen können, kann diese religiöse Minderheit kaum auf ein solches internationales Netzwerk zurückgreifen. Daher sind sie ganz besonders auf die Hilfe des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen, des UNHCR, angewiesen. Doch von dieser UN-Organisation kommt viel zu wenig.
Manche Kritiker, die Kurdistan bereist haben, werfen diesen professionellen Flüchtlingshelfern sogar vor, unorganisiert und von dem Ansturm der Flüchtlinge völlig überfordert zu sein. So haben sich die meisten der Jesiden rund um die nordkurdische Stadt Dohuk niedergelassen. Von den 560.000 dorthin Geflohenen warten heute immer noch 360.000 auf winterfeste Behausungen, gibt das Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe der UNO (OCHA) in seinem Situationsbericht vom November an. Mit anderen Worten: mehr als die Hälfte der Flüchtlinge rund um Dohuk lebt nach wie vor in zugigen Zelten und Rohbauten häufig genug nur notdürftig mit Plastikfolien geschützt vor Schnee, Eiseskälte und Winterstürmen.
Zu allem Übel hatte die kurdische Regierung auch noch beschlossen, zum 1. Dezember den schon längst überfälligen Unterricht in den belegten Schulen wieder aufzunehmen, verständlich, hatte es doch seit Ende der Sommerferien keinen Unterricht gegeben. Für die Flüchtlinge bedeutete dies: Mit Sack und Pack umziehen mitten im Winter. Allein in Dohuk landeten im November so 82.000 Flüchtlinge in nicht winterfesten Zeltlagern. Vom Schlechten in noch Schlechteres. So fehlt es in den Lagern häufig an Kanalisation. Abwässer fließen in offenen Kanälen durch die Straßen. Und wer nachts von seinem Zelt zu einer Latrine gehen will, muss sich hunderte von Metern durch Kälte, Schlamm und Dunkelheit tasten, ehe er sein Ziel erreicht hat; denn beleuchtet sind die Wege nicht. Weil es schon Übergriffe und Belästigungen von Frauen in einigen Lagern gegeben hat, weigern sie sich nachts ihre Zelte zu verlassen.
Mangelnde Unterstützung der Geberländer
Auch die Eigentümer der von Flüchtlingen okkupierten halbfertigen Gebäuden wollen ihre Investitionen nicht völlig in den Sand setzten und verlangen die Rohbauten zu räumen, ehe sie zu Bauruinen verkommen. In der kurdischen Stadt Zakho nahe der türkischen Grenze weigern sich freilich 537 Familien umzuziehen wegen miserabler Lebensbedingungen in dem Lager, das für sie vorgesehen ist.
Besonders hart sind die Kinder und Jugendliche betroffen. Über 40 Prozent der Flüchtlinge im Nordirak sind unter 18 Jahre alt. Schulen mit Unterrichtsmaterial und Lehrern gibt es so gut wie nicht für sie, auch nicht andere „kindergerechte Einrichtungen“, wie das Koordinierungsbüro der UNO in seinem Dezemberpapier eingestehen muss. Gerade einmal 10 Prozent der notwendigen Einrichtungen seien finanziert.
Die Hauptursache: nicht das UNHCR versagt, es sind vor allem die Geberländer. Die versprechen viel, wenn auch nicht genug, zahlen am Ende aber noch viel weniger, als sie zugesagt hatten, stellt das UN-Büro lapidar fest. So seien gerade mal ein Drittel der Kosten gedeckt, die anfallen, will man schnell auf das Flüchtlingsdesaster im Nordirak reagieren. Dieser Geldmangel hat zur Folge, dass bis Ende November von 43 lebenswichtigen Projekten nur 9 tatsächlich umgesetzt werden können, und selbst die seien nur teilweise finanziert, schreiben die Fachleute der Vereinten Nationen. Saudi Arabien und Deutschland stehen an der Spitze der Zahlungswilligen, ganz weit hinten reiche Ölländer wie Kuwait.
Rückkehr unwahrscheinlich
Die Folge: Winterlager konnten nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. Und die Fertiggestellten können wegen Geldmangel oft genug nur unzureichend ausgerüstet werden, schreibt der UNO-Bericht. Es fehle an vielem, an Wasch- und Kocheinrichtungen, an einer ausreichenden medizinischen Versorgung und Betreuung, von einer therapeutischen Behandlung der vielen traumatisierten Frauen und Kinde ganz zu schweigen. Außerdem ist die Kindersterblichkeit dramatisch gestiegen in den Lagern. Neugeborene hätten kaum eine Chance zu überleben, hat zum Beispiel die Nordirakreferentin von Caritas international Angela Gärtner bei ihrer Reise durch das Kurdengebiet kürzlich festgestellt: „Die Überlebenschancen von Neugeborenen bei tagsüber 5 Grad und nachts unter 0 ist äußerst gering.“
Zur Zeit versuchen kurdischen Kampfverbänden, die Peschmergas, die IS aus dem jesidischen Stammland im Nordwesten des Irak zu vertreiben. Von dort waren zwar im Sommer die meisten dieser irakischen Binnenflüchtlinge vor den Terrorkriegern geflohen. Doch selbst wenn dies dauerhaft gelingen sollte, ist eine rasche Rückkehr der Jesiden in ihre Heimat, in die Stadt Sindschar und deren Umland, wenig wahrscheinlich. Zu tief sitzt das Misstrauen auch gegen die Kurdenkämpfer: „Wer soll uns beschützen?“, klagen die Flüchtlinge „Als im Sommer IS kam, sind die Peschmergas noch vor uns weggelaufen. Sollen wir uns jetzt auf die verlassen?“ Außerdem sitzt das Misstrauen gegen frühere muslimische Nachbarn zu tief: „Die haben sich sofort IS angeschlossen und unsere Häuser geplündert“, beklagen viele der Flüchtlinge.