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Flüchtlinge im Baltikum: Zwischen Abschreckung und Solidarität

Lange haben sich die baltischen Staaten gegen eine EU-weite Verteilung von Flüchtlingen gewehrt. Während Lettland und Estland weiter auf Abschreckung setzen, heißt Litauen Flüchtlinge willkommen. Die Gründe liegen in der Innenpolitik.
von Werner Rechmann · 7. Oktober 2015
Demonstration gegen Flüchtlinge in Riga
Demonstration gegen Flüchtlinge in Riga

Lettland hat in den vergangenen Wochen besonderen Widerwillen gegenüber der Einsetzung einer EU-weit verbindlichen Quote zur Umverteilung von Flüchtlingen aus den Camps in Italien, Ungarn und Griechenland auf andere EU-Mitgliedsstaaten gezeigt. Erst am 18. September erklärte sich die lettische Regierung formal bereit, 776 Flüchtlinge in den nächsten zwei Jahren in Lettland aufzunehmen. Warum hat das nur so lange gedauert?

Die Debatte um eine verbindliche Quote, die die umstrittene Dublin-Verordnung ergänzen soll, traf Lettland inmitten eines schon seit Monaten dauernden Machtkampfs innerhalb der Regierungskoalition. Seit Oktober 2014 setzt sich diese aus der  liberal-konservativen Vienotiba (Einigkeit), dem Zalo un Zemnieku savieniba (Bündnis der Grünen und Bauern) und der nationalkonservativen Nacionala apvieniba VL-TB/LNNK (nationalistischen Allianz) zusammen. Dabei fiel vor allem die nationalistische Allianz, ein Parteienbündnis aus dem rechtskonservativen und rechtsextremen Spektrum, in den vergangenen Monaten durch rhetorische Hetze gegen Flüchtlinge auf – und fand damit in Meinungsumfragen zunehmende Unterstützung unter lettischen Wählern.

Instrumentalisierung der Besatzungszeit gegen Flüchtlinge

Die fehlende Einigkeit innerhalb des Regierungsbündnisses ging so weit, dass Innenminister Rihards Kozlovskis seine Teilnahme am „Flüchtlingsgipfel“ der Innenminister der Mitgliedsstaaten am 14. September in Brüssel kurzfristig absagte, weil, so hieß es in einer späteren Pressemitteilung seines Ministeriums, Lettland aufgrund der Streitigkeiten innerhalb der Koalition derzeit keine offizielle Haltung in Flüchtlingsfragen habe. Erst intensiver politischer Druck aus Brüssel sorgte letztlich für ein Umdenken bei den Beteiligten.

Die Mobilisierungskampagne der Nationalisten gegen Migration und Asyl nutzt die Geschichte der sowjetischen Okkupation Lettlands sowie die Abwanderung vor allem junger Menschen aus Lettland während und nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise  von 2008 als symbolische Ressource, um in der Bevölkerung eine Angst vor „Überfremdung“ und dem Verlust kultureller Identität zu schüren. In Meinungsumfragen sprechen sich derzeit etwa zwei Drittel der Letten gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika und dem Nahen Osten aus.

Lettland rückt wegen der Flüchtlinge nach rechts

Insofern signalisiert die innenpolitische Krise der Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma mehr als nur einen Koalitionsstreit. Die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik der EU haben das Potential, für einen Rechtsruck in der lettischen Politik zu sorgen. Die weitgehend pro-europäisch eingestellten politischen Eliten des Landes hingegen sehen sich angesichts der mangelnden positiven Erfahrungen des Landes mit Integrationspolitik erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt, der Anti-Asylrhetorik wirksam Paroli zu bieten und die notwendige Aufnahme von Flüchtlingen in ein positives Licht zu rücken.

Die Zukunft der estnischen Regierung hängt an der Flüchtlingsfrage

In Estland sind die politischen Ausgangsbedingungen ähnlich wie in Lettland. Und auch die Esten sprechen sich gegen verbindliche Quoten in der Zukunft aus. Nach intensiven Debatten im Parlament nahmen die Esten jedoch schlussendlich die ihnen zugewiesenen Aufnahmezahlen von 362 Flüchtlingen in den nächsten zwei Jahren etwas früher als Lettland an. Da mit Russland als unmittelbarem Nachbarn von Estland Sicherheitsbedenken die politische Tagesordnung bestimmen, wurde Kritikern dieser Entscheidung entgegen gehalten, dass, wer die Unterstützung der NATO und EU in Sicherheitsfragen wolle, sich auch in der EU-Flüchtlingspolitik solidarisch zeigen müsse.

Angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit der estnischen Bevölkerung mit ihrer im März neu gewählten Regierung, deren Amtszeit von Anfang an von größeren Koalitionsstreits geprägt war, hängt für alle Beteiligten viel davon ab, welche Arrangements die Regierung zur Integration der Flüchtlingn trifft, und wie diese kommuniziert werden.

Große Solidarität in Litauen

Litauen zeigte unter allen baltischen Staaten die klarste und unmittelbarste Reaktion auf die Grundsatzrede des Kommissionspräsidenten Juncker vom 9. September: Bereits am darauffolgenden Tag beschloss man dort die Aufnahme von 1105 Flüchtlingen in den nächsten zwei Jahren. Noch im Frühjahr dieses Jahres war von nur 325 Personen die Rede. Von Krieg Bedrohte müsse man schützen, heißt es nun über alle politischen Lager hinweg.

Zugleich mahnen Oppositionsparteien an, dass die Regierung schlecht vorbereitet sei auf die Integration der Flüchtlinge. Dabei setzt die litauische Präsidentin Grybauskaite vor allem auf die Kirche, die Caritas und das Rote Kreuz. In Meinungsumfragen gaben mehr als die Hälfte der befragten Litauer an, keine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Flüchtlinge zu befürchten und zeigen sich insgesamt gelassen über den gesellschaftlichen Zuwachs. 

Autor*in
Werner Rechmann

ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Baltischen Staaten in Riga.

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