Europa darf die Ukraine nicht im Stich lassen
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Auf dem Kreschtschatik, der Hautverkehrsader Kiews und einst Schauplatz von schicksalhaften Ereignissen der jüngsten ukrainischen Geschichte, rollen Panzer und marschieren Bataillone von ukrainischen regulären Truppen und Freiwilligen. Eine Militärparade. Das Land feiert am 24. August 2016 seinen 25. Unabhängigkeitstag.
92 Prozent für die Unabhängigkeit
Rückblick: US-Präsident George H. W. Bush besuchte am 1. August 1991 die Hauptstadt der Noch-Sowjetukraine und sprach von einem „stabilen, vor allem friedlichen Wandel“. Das Weiße Haus setzte immer noch nicht auf die Führungen der de-facto souverän gewordenen Unionsrepubliken, sondern auf die Moskauer Perestroika-Spitze um Gorbatschow. Bush wurde an diesem Tag im ukrainischen Obersten Sowjet von gemäßigten Reformern bejubelt und von Nationalisten ausgebuht. Die Geschichte nahm aber ihren Lauf.
Das Parlament der Ukraine rief am 24. August 1991 mit Hinweis auf die „tausendjährige Staatlichkeit“ und die „lebensbedrohliche Situation“ wegen des Putsch-Versuchs in Moskau die Unabhängigkeit der wirtschaftlich zweitstärksten Republik der UdSSR. Am 1. Dezember unterstützen diese Entscheidung 92 Prozent der am Unabhängigkeitsreferendum beteiligten Bürger. Die meisten Befürworter der Emanzipationsidee lebten in der Westukraine - bis zu 98 Prozent, die wenigsten auf der Krim - etwa 54 Prozent.
Aus dem schnellen Aufstieg wurde nichts
Apologeten der ukrainischen Souveränität warben 1991 nicht nur mit Argumenten ideeller Art. Sie lieferten das beeindruckende Zahlenwerk zur Schwarzerdefläche, Stahlproduktion und Stromerzeugung. Sie wiesen auf das intellektuelle Potential der Ukraine hin. Selbst Pragmatiker prophezeiten dem jungen Staat, Kornkammer Europas und industrielles Herz der UdSSR, einen schnellen Aufstieg in den exklusiven Kreis von reichen Ländern.
Sie haben sich verkalkuliert. 2013, das heißt vor den kriegerischen Ereignissen im Donbass, lag das BIP der Ukraine weiterhin bei cirka 70 Prozent des BIP der Sowjetrepublik von 1990. Eine große Errungenschaft der ukrainischen Gesellschaft bestand darin, dass ein aus historisch, sprachlich und religiös unterschiedlich geprägten Regionen zusammengesetztes Land die turbulenten Transformationen der 90er Jahren friedlich überlebte.
Viele Probleme belasten die junge Demokratie
Zugleich konnten fünf Staatspräsidenten, 18 Premiers und acht Parlamenten keines der grundlegenden Problem der Ukraine lösen: gerechte oder zumindest durch die Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte Verteilung des Sowjeteigentums, Modernisierung und Energieeffizienz der maroden Industrie, Verabschiedung wirksamer Gesetze und deren Umsetzung, Schaffung einer gemeinsamen Geschichtspolitik und nicht zuletzt pragmatische Beziehungen zu Russland.
Während im Westen des Landes jede Spur der Sowjetära binnen weniger Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung aus dem Straßenbild verschwand, legten die Schulkinder in der Ostukraine (auch außerhalb des Donbasses) Blumen am Lenin-Denkmal nieder. Sowjetnostalgie und Nationalismus bremsten gleichermaßen die Suche nach einem neuen demokratischen Weg.
Wechselvolle Beziehungen zu Moskau
Das Verhältnis Kiews zu Moskau stellte sich immer als eine bunte Mischung aus Zuneigung und Ablehnung dar. Unter dem als Moskau-freundlich geltenden Präsidenten Leonid Kutschma ereignete sich ein ukrainisch-russischer Konflikt um die Insel Tusla neben der Krim. Gazprom stritt mit Wiktor Janukowytsch wegen der Gaslieferung. Jede ukrainische Regierung hatte Schwierigkeiten im Umgang mit der Führung des Nachbarstaates. Auf zwischenmenschlicher Ebene gab es jedoch keine Hindernisse.
Die Annexion der Krim durch Russland und der seit 2014 andauernde Krieg in Ostukraine warfen alle Versöhnungsbemühungen auf Jahrzehnten zurück und erfassten in tausenden von Fällen auch das Privatleben der Menschen. Der Schlüssel für eine Aussöhnung liegt nicht ausschließlich in den großen Machtzentren der Welt, wie manche Geostrategen gerne behaupten. Er liegt in jeder Gemeinde der Ukraine und Russlands.
Die Ukraine gehört zu Europa
Alle Kiewer Regierungen suchten Nähe zum politischen Europa. Die Ukraine gehört nicht nur geografisch und kulturell dazu. Der europäische Geist ist in der Ukraine so stark wie in kaum einem EU-Mitgliedstaat. Europa darf das ukrainische Volk nicht im Stich lassen.