EuGH-Urteil: Wieso Polens Verfassungsgericht gegen EU-Recht verstößt
EU-Recht hat Vorrecht gegenüber nationalem Recht. Weil das PiS-kontrollierte Verfassungsgericht in Polen diesen Grundsatz nicht anerkennen wollte, hat der Europäische Gerichtshof es jetzt gerügt, und das gleich zweimal.
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EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht - auch im Fall von Polen, wie der Europäische Gerichtshof jetzt festgestellt hat.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat auf Klage der EU-Kommission das polnische Verfassungsgericht gleich doppelt in die Schranken gewiesen. Zum einen habe es in zwei Urteilen 2021 den Vorrang des EU-Rechts missachtet. Außerdem sei es gar kein unabhängiges und unparteiisches Gericht.
PiS versuchte Justiz zu kontrollieren
Auslöser des Konflikts war der Versuch der einstigen rechtspopulistischen Regierungspartei PiS, die polnische Justiz unter ihre Kontrolle zu bekommen. Teile der Justiz wehrten sich jedoch dagegen, indem sie damals den EuGH einschalteten. Dessen Anordnungen zur Wahrung der Unabhängigkeit der polnischen Justiz wurden jedoch vom polnischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.
In zwei Urteilen im Juli und Oktober 2021 erklärte das PiS-kontrollierte Verfassungsgericht, dass der EuGH seine Kompetenzen überschreite, wenn er sich in die polnische Justiz einmische. Anordnungen des EuGH zu Justizfragen sollten künftig in Polen nicht mehr beachtet werden, so das Verfassungsgericht. EU-Recht könne nur beachtet werden, wenn es der polnischen Verfassung entspreche (wie sie vom PiS-kontrollierten Verfassungsgericht ausgelegt wird).
Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen
Dagegen leitete die EU-Kommission 2022 ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Zunächst wies die PiS-Regierung alle Vorwürfe zurück. Nach ihrer Abwahl im Oktober 2023 und der Regierungsübernahme durch den liberal-konservativen Donald Tusk erkannte die polnische Regierung die Vorwürfe der EU-Kommission gegen das (immer noch PiS-kontrollierte) polnische Verfassungsgericht jedoch in vollem Umfang an. Der EuGH musste die Vorwürfe aber dennoch prüfen.
In seinen Schlussanträgen, die das EuGH-Urteil vorbereiten, sprach der unabhängige Generalanwalt Dean Spielmann im März 2025 von einer „beispiellosen Rebellion“ des polnischen Verfassungsgerichts gegen das EU-Recht.
EU-Recht hat immer Vorrang
Der EuGH verzichtete nun zwar auf den markigen Begriff der „Rebellion“, folgte dem Generalanwalt sonst aber auf ganzer Linie. Auch der EuGH kam zum Schluss, dass das polnische Verfassungsgericht den Vorrang des EU-Rechts missachtet habe. Dieser Vorrang gelte auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht, weil sonst die EU nicht funktionieren könne.
Das polnische Verfassungsgericht könne sich auch nicht auf die polnische Verfassungsidentität berufen, so der EuGH. Zwar garantiere die EU allen Mitgliedsstaaten, dass sie deren „nationale Identität“ achte. Das bedeute aber keinen Freibrief zum Abweichen von EU-Recht, Wenn ein Mitgliedsstaat der Meinung ist, dass EU-Recht seine Verfassungsidentität verletze, müsse der Fall dem EuGH vorgelegt werden, der den Konflikt dann nach einem „Dialog“ entscheide. Allerdings könne es bei zentralen Werten wie der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie keine nationalen Abweichungen geben.
Polnisches Verfassungsgericht ist nicht unabhängig
Der zweite zentrale Vorwurf des EuGH gegen das polnische Verfassungsgericht betrifft dessen Zusammensetzung. 2015 wurden von der PiS-Regierung gleich nach der Regierungsübernahme drei ihr nahestende Richter ernannt, obwohl zuvor schon drei andere Richter*innen gewählt worden waren. Einer der illegitimen Verfassungsrichter ist immer noch im Amt. Der EuGH kommt nun zum Schluss: Der polnische Verfassungsgerichtshof genüge nicht den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne des EU-Rechts.
Eigentlich könnte sich die Regierung Tusk über das EuGH-Urteil freuen. Es könnte die juristische Rechtfertigung sein, das polnische Verfassungsgericht zu ignorieren, wenn es versucht, die Rückabwicklung der PiS-Reformen, insbesondere der Justizreform, zu ignorieren. Doch die Tatkraft der Regierung Tusk wird nicht nur durch das Verfassungsgericht behindert, sondern auch durch den PiS-nahen Präsidenten Karol Nawrocki, der erst im Juni mit knapper Mehrheit gewählt wurde und die Tusk-Regierung regelmäßig mit seinem Veto stoppt.