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Erdoğans Neuwahlen: Ausgang auf Messers Schneide

Die Türkei erwartet am Sonntag eine Schicksalsentscheidung: Präsident und Parlament werden gewählt, das autoritäre Präsidialsystem tritt in Kraft. Erdoğan liegt in allen Umfragen weit vorne, doch die nötige absolute Mehrheit ist ihm nicht sicher. Nun scheint ihm jedes Mittel recht, um doch noch zu siegen.
von Kristina Karasu · 22. Juni 2018
Mit Atatürk für CHP-Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince
Mit Atatürk für CHP-Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince

Ein ums andere Mal steigt der Vogel Phoenix aus der Asche, wird das mächtige türkische Reich in seiner Geschichte durch große Führer immer wieder neu geboren. So erzählt es das jüngste, aufwendig animierte Wahlkampfvideo des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Er selbst markiert das Ende dieser Geschichte, zeigt die Brücken und Flughäfen, die er hat bauen lassen, spricht mit getragener Stimme von Siegen und einer neuen Ära. Unterlegt ist das Video mit dem historischen „Plevne Marsch“. Doch der ist kein üblicher Siegesmarsch – sondern eigentlich der Marsch einer Niederlage.

AKP trifft im Wahlkampf den falschen Ton

Dieser Fauxpas ist beispielhaft dafür, wie die türkische Regierung in diesem Wahlkampf immer wieder den falschen Ton trifft. Während Erdoğan von starker Führerschaft und einer historischen Mission redet, sorgen sich die Türken um steigende Inflation und Arbeitslosigkeit, um das immer schlechter werdende Bildungssystem und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz. Zudem haben Massenentlassungen und Festnahmen in den letzten zwei Jahren sehr viele Familien im Land getroffen.

Vor allem aber sind Erdoğans Wähler wahlmüde, glaubt die eigentlich regierungsnahe Kolumnistin Nihal Bengisu Karaca in der Zeitung Habertürk: „Denn in den letzten Jahren gab es so viele Wahlen, und jede wurde als überlebenswichtig für die Türkei angekündigt.“

Wahl zwischen Demokratie oder Autokratie

Diese Wahl ist es tatsächlich, es geht um nicht weniger als die demokratische Zukunft des Land. Mit der Wahl tritt das autoritäre Präsidialsystem in Kraft, das die Gewaltenteilung größtenteils aufhebt und dem Präsidenten die Macht gibt, praktisch allein zu regieren.

Doch ein Sieg Erdoğans ist noch nicht ausgemacht. Zwar liegt er in allen Umfragen weit vorne, doch bei den Präsidialwahlen benötigt er die absolute Mehrheit, um im ersten Wahlgang zu gewinnen. Viele Umfragen zeigen ihn knapp darunter oder darüber.

Muss Erdoğan in die Stichwahl?

Derzeit erscheint es gut möglich, dass Erdoğan mit dem Kandidaten der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem İnce, in die Stichwahl kommt. Umfragen sehen İnce derzeit bei fast 30 Prozent der Stimmen. Der langjährige Abgeordnete und ehemalige Physiklehrer hat in den letzten Wochen immens an Beliebtheit gewonnen: Seine TV-Auftritte erreichen Rekordeinschaltquoten, seine Wahlkampfveranstaltungen auch in AKP-Hochburgen sind erstaunlich gut besucht.

Am Donnerstag versammelten sich in Izmir gar 2,5 Millionen Menschen, um seine Rede zu hören. „Er ist schon jetzt ein Phänomen“, glaubt Kolumnist Hakan Aksay des Internetportals T24. İnces mutiges und zugleich versöhnliches Auftreten sowie seine Annäherung an die Kurden seien für die Türkei ein wichtiger Schritt. Allerdings fehle es ihm noch an konkreten Visionen, als ein sozialdemokratischer Führer von Weltrang könne man ihn noch nicht bezeichnen.

Erdoğan fürchtet Korruptionsprozesse gegen ihn

Für Regierungsgegner aber ist Ince derzeit die letzte Hoffnung. Denn sollte Erdoğan gewinnen, dürfte seine Herrschaft kaum noch in Frage zu stellen sein. Wohl auch deshalb haben fast alle Oppositionsparteien angekündigt, Ince zu unterstützen, falls es zu einer Stichwahl kommen sollte. Dann könnte Erdoğans Stuhl wackeln – ein Szenario, dass vor Monaten noch unmöglich erschien.

Das wäre für Erdoğan fatal. Bei seinem Abtritt könnte der Korruptionsskandal von 2013 wieder aufgerollt werden und Erdoğan mehrfach angeklagt werden. Ein geruhsamer Ruhestand erscheint für ihn unmöglich. Also muss er gewinnen, um jeden Preis.

AKP ohne absolute Mehrheit

Auch bei den zeitgleich stattfindenden Parlamentswahlen sieht es für Erdoğans AK-Partei schwierig aus: Derzeit liegt sie bei circa 44 Prozent. Nur zusammen mit den Stimmen der ultrarechten MHP, mit der sie ein Wahlbündnis geschlossen hat, kommt sie knapp auf 50 Prozent.

Das Wahlbündnis der Opposition, bestehend aus der CHP und drei weiteren Parteien, könnte laut aktueller Umfragen knapp 40 Prozent erreichen. Entscheidend für das Gleichgewicht im Parlament ist nun, ob die prokurdische HDP, die keinem Bündnis angehört, die 10-Prozent-Hürde knackt. Auch das steht derzeit auf Messers Schneide.

Abkehr vom Präsidialsystem?

Die Opposition verspricht im Falle ihres Wahlsieges eine Abkehr vom Präsidialsystem und eine Rückkehr zum parlamentarischen System. Das allerdings ist nicht so leicht wie es erscheint: Denn wer auch immer die Präsidialwahl gewinnen sollte, wird mit großer Macht ausgestattet. Das Risiko besteht, dass auch ein Präsident aus den Reihen der Opposition diese Macht nicht gleich wieder aus den Händen gibt.

Aus CHP-Kreisen heißt es, dass Kandidat Ince diese Macht 2-3 Jahre lang nutzen würde, um demokratische Strukturen wiederaufzubauen und staatliche Institutionen von Erdogans Leuten zu ‚reinigen’. Wie demokratisch und friedlich das ablaufen würde, ist fraglich. Zwar plädiert İnce für Gerechtigkeit und Gewaltenteilung, doch nicht wenige in der Opposition dürfte es nach Jahren der Repressionen nach Rache dürsten.

Wahlfälschung für Regierung ein Leichtes

Soweit will es Erdoğan erst gar nicht kommen lassen. Derzeit fürchtet sich die Opposition vor allem vor Wahlbetrug – ein Vorwurf, der schon beim Referendum 2017 laut wurde. In den letzten Wochen hat sie zusammen mit NGOs hunderttausende ehrenamtliche Wahlbeobachter ausgebildet, die am Wahltag an den Urnen Spalier stehen werden. Da derzeit noch immer der Ausnahmezustand herrscht, Wahlbehörden und Polizei fest in Regierungshänden sind und auch die Medien fast alle regierungsnahen Konzernen gehören, wäre Manipulation um ein paar Prozentpunkte für die Regierung ein Leichtes.

Dass die Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt ein heimlich aufgenommenes Video einer parteiinternen Veranstaltung der AKP, das derzeit in den sozialen Medien viral geht. Darin ruft Erdogan ruft seine Parteimitglieder auf, am 24. Juni die Wahllokale zu besetzen, bevor die Wahlbeobachter der anderen Parteien kommen. „Dann können wir die Wahlen gewinnen, bevor sie beginnen.“ Zugleich solle seine Partei schon vor dem Wahltag „besondere Mittel“ ergreifen, damit die kurdennahe HDP die 10-Prozenthürde nicht schafft. Auch wenn seine Worte im Vagen bleiben – sie lassen erahnen, dass Erdogan viele Mittel recht sind, um zu gewinnen.

Tote im kurdischen Südosten

Wie angespannt die Lage ist, zeigte sich am 14. Juni: Da starben bei der Wahlkampftour eines Regierungsabgeordneten in Suruc im kurdisch geprägten Südosten vier Menschen, darunter der Bruder des Abgeordneten. Die Regierung macht bewaffnete Anhänger der PKK dafür verantwortlich. Die kurdennahe HDP hingegen erklärt, Begleiter des Abgeordneten hätten das Feuer eröffnet, nachdem ein kurdischer Geschäftsmann in seinem Laden erklärt habe, er würde nicht für die AKP stimmen. Anschließend seien die verletzten Söhne des Geschäftsmannes und er selbst im Krankenhaus von den Verwandten des Abgeordneten gelyncht und getötet worden. Welche Version auch stimmen mag – sie geben einen bitteren Vorgeschmack auf das, was in den nächsten Tagen in der Türkei passieren könnte.
 
Dabei wünschen sich die meisten Türken eigentlich nur Frieden und wirtschaftliche Stabilität nach Jahren der Unruhe. „Die Menschen in diesem Land wollen diesmal einen versöhnlichen Führer“, glaubt der bekannte türkische Künstler Genco Gülan. „Entweder wird so eine Person gewinnen, oder der jetzige Präsident muss beginnen, einen friedlicheren Kurs zu fahren.“

Zwischen Taktik und Verzweiflung

Als hätte er das gehört, versprach Noch-Ministerpräsident Binali Yıldırım in dieser Woche, den Ausnahmezustand nicht noch einmal zu verlängern. Erdoğan erklärte zudem am Mittwoch, für seine Partei sei auch eine Koalition denkbar, sollte sie keine absolute Mehrheit ergattern. Erstaunliche Worte für einen Präsidenten, der seit Jahren Koalitionen als eine Katastrophe für sein Land bezeichnet. Vielleicht steckt Wahlkampftaktik dahinter. Vielleicht offenbart es aber auch, wie verzweifelt seine derzeitige Lage ist.

 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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