Erdoğan als Bittsteller in Berlin: zwischen Pragmatismus und Protesten
Die türkische Seite hat sich gut vorbereitet, beim Staatsbesuch von Recep Tayyip Erdoğans in Berlin soll alles glatt gehen. Um dafür den Boden zu bereiten, kam am letzten Freitag Erdoğans Finanzminister und Schwiegersohn Berat Albayrak nach Deutschland. Er gilt als Kronprinz Erdoğans und tourt derzeit durch Europa und die USA, um bei Politikern und Anlegern neues Vertrauen aufzubauen.
Ankara hofft auf neue Ära der Beziehungen
Nach einem Treffen mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier sprach er euphorisch von einem „Beginn einer neuen Ära“ in den Beziehungen zu Deutschland: „Wir haben den Spannungsprozess hinter uns gelassen.“
Wurde der historische Tiefpunkt in den deutsch-türkischen Beziehungen der letzten zwei Jahre tatsächlich so leicht überwunden? Nicht ganz. Seit Tagen finden bundesweit Kundgebungen gegen den türkischen Staatschef statt, bei der Demonstration „Erdogan not welcome“ am Freitag auf dem Potsdamer Platz in Berlin werden 10.000 Menschen erwartet. Einige Politiker der FDP, Linken, AfD sowie die Partei- und Fraktionschefs der Grünen haben angekündigt, nicht am Staatsbankett zu Ehren Erdoğans im Schloss Bellevue teilnehmen zu wollen: Sie finden den Rahmen eines Staatsbesuches unangemessen für einen autoritär regierenden Präsidenten.
Viel Skepsis in Deutschland
Diese Proteste werden so schnell nicht verstummen, meint Politologe Murat Erdoğan - nicht verwandt mit dem Staatspräsidenten - von der türkisch-deutschen Universität in Istanbul: „Die türkische Öffentlichkeit ist bereit für eine erneute Annäherung an Deutschland, doch für die deutsche Öffentlichkeit ist das ein sehr konfliktträchtiges Thema.“ Zwar strenge sich die türkische Regierung spürbar an, die Beziehungen zu Deutschland zu kitten. So hat sie etwa die meisten in der Türkei inhaftierten Deutschen freigelassen. „Doch um Beziehungen wirklich zu normalisieren, braucht es viel Arbeit auf beiden Seiten“, so Politologe Erdoğan. Solange sich die Menschenrechtslage in der Türkei nicht verbessere, stünden die Beziehungen auf fragilem Fundament: „Daher sehe ich die erneute Annäherung eher als eine kurzfristige, symbolische, bei der beide Seiten versuchen, ihre Interessen zu wahren.“
Schwere Wirtschaftskrise in der Türkei
Diese Interessen sind für beide Seiten vielfältig. Die Türkei befindet sich seit Monaten in einer tiefen Währungskrise, die türkische Lira hat seit Jahresbeginn bis zu 45 Prozent an Wert gegenüber Dollar und Euro verloren. Nun ist die Angst vor einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise groß. Direkte finanzielle Hilfen aus Deutschland stehen derzeit nicht im Raum, das erklären beide Regierungen zumindest offiziell.
Allerdings drängt Ankara darauf, dass die EU ihre Zollunion mit der Türkei ausweitet. Bisher sind nur Waren von Zöllen befreit, aber keine Dienstleistungen, landwirtschaftliche Produkte und staatliche Anschaffungen. Würde das ausgeweitet, könnten die türkischen Exporte um bis zu 70 Prozent gesteigert werden, hat das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo errechnet. Das allerdings würde nicht kurzfristig geschehen, sondern wäre ein Prozess von mehreren Jahren. „Viel wichtiger aber wäre der psychologische Effekt“, betont Politologe Murat Erdoğan: „Eine Ausweitung der Zollunion würde signalisieren: Die Türkei steht weiter in Verhandlungen mit der EU.“ Der türkischen Wirtschaft könnte das enormen Aufwind geben.
Syrien wird ein wichtiges Thema sein
Auch Deutschland könnte von einer stabilisierten türkischen Wirtschaft profitieren. Türkische Unternehmen sind derzeit mit 238 Milliarden Dollar im Ausland verschuldet, das entspricht fast einem Drittel des türkischen Bruttoinlandsproduktes. 21 Milliarden Euro davon stammen von deutschen Banken, so die Bundesbank. Zudem sind mehr als 6500 deutsche Unternehmen in der Türkei ansässig, das Land gilt außerdem als wichtigster Absatzmarkt. „Die Bundesregierung hat begriffen: Wenn sie jetzt nicht der Türkei hilft, könnte es sie später sehr teuer zu stehen kommen“ glaubt Politologe Erdoğan.
Auf der Agenda des Staatsbesuches wird sicher auch das Thema Syrien stehen. Letzte Woche gelang es Erdoğan, mit Putin einen Waffenstillstand für die nordsyrische Stadt Idlib auszuhandeln. Die Stadt hat drei Millionen Einwohner, liegt nur 50 km von der türkischen Grenze entfernt und gilt als letzte Enklave der syrischen Rebellen, viele von ihnen Dschihadisten. Das Assad-Regime wollte sie mit Unterstützung Russlands bombardieren. Nun hat es die Angriffe eingestellt, aber wohl nur vorübergehend, schätzt Politologe Murat Erdoğan: „Das Assad-Regime, das fast das ganze Land zurückerobert hat, wird langfristig nicht dulden, dass sich in Idlib bewaffnete Gruppen sammeln.“
Enge Zusammenarbeit scheint alternativlos
Würde Assad Idlib attackieren, könnten eine Million Menschen in die Türkei flüchten. Viele von ihnen würden wohl versuchen, weiter nach Europa zu reisen, auch weil in der Türkei die einstige Willkommenskultur gegenüber syrischen Flüchtlingen ein Ende gefunden hat. Zudem ist vollkommen unklar, wohin die Dschihadisten aus Idlib flüchten würden. Sie stellen eine große Bedrohung nicht nur für die Türkei, sondern ebenso für Europa dar. „Deutschland bleibt da nichts anderes übrig, als bei diesem Thema eng mit der Türkei zusammenzuarbeiten“ so Politologe Erdoğan.
Gleichzeitig bleibt das Thema Syrien nicht auf Idlib begrenzt. Staatspräsident Erdoğan erklärte in den letzten Tagen, die größte Bedrohung in Syrien gehe derzeit von der kurdischen PYD aus, die das Gebiet östlich des Euphrat entlang der türkisch-syrischen Grenze mit Unterstützung der USA kontrolliert. Ankara sieht die PYD als Ableger der Terrororganisation PKK, Washington hingegen sieht in ihnen einen legitimen, verlässlichen Partner in Nahost. Das birgt ein weiteres Pulverfass, das so schnell keine Ruhe im Syrienkonflikt ermöglichen wird und die Bundesregierung herausfordert, zwischen den Parteien zu vermitteln.
Maas: Müssen sehr viele Dinge besprechen
Dementsprechend verteidigt Außenminister Heiko Maas den kontroversen Staatsbesuch: „Dass ein Besuch von Präsident Erdogan öffentlich kritisch verfolgt wird und auch zu Protesten führt, ist Teil der demokratischen Realitäten in unserem Land“, sagte er im Interview mit der dpa. „Die Konsequenz daraus kann aber nicht sein, dass Herr Erdogan nicht mehr nach Deutschland kommen kann. Im Gegenteil: Es gibt sehr viele Dinge, die wir miteinander zu besprechen haben“, so der SPD-Politiker. Erdoğan kommt diesmal als Bittsteller – das sollte die Bundesregierung die Chance nutzen, klare Worte zu kritischen Themen zu finden.
Unmittelbar vor dem Erdogan-Besuch hat sich Ex-SPD-Chef Martin Schulz dafür ausgesprochen, den türkischen Präsidenten in Deutschland gastfreundlich zu empfangen. „Erdogan ist das Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes“, sagte der ehemalige Präsident des Europaparlaments dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Er selbst habe Erdogan sowohl öffentlich als auch im persönlichen Gespräch wiederholt kritisiert. Bei einem Staatsbesuch müsse und solle man aber Gastfreundschaft auch tatsächlich gewähren. „Wenn wir jetzt eine Lex Erdogan schaffen würden, wie sollen wir dann demnächst mit Donald Trump, Viktor Orban oder dem saudi-arabischen König umgehen?“, so Schulz.
Roth: „Werden nicht vergessen, was passiert ist"
Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, erinnerte im Deutschlandfunk „an die inakzeptablen Beleidigungen im vergangenen Jahr, als uns Nazi-Methoden unterstellt wurden. Das waren schwere Beleidigungen und die werden wir auch nicht vergessen.“ Es sei gut, dass man nun „andere Töne“ aus Ankara höre. Am Ende jedoch zählten Taten. „Die Türkei muss sich bewegen und sie muss sich bewegen in den zentralen Fragen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und sie muss sich bewegen vor allem auch bei der schwierigen Frage von Inhaftierungen aus politischen Gründen“, so Roth. Er wies darauf hin, zur Zeit seien „noch fünf deutsche Staatsbürger in der Türkei inhaftiert und das ist für uns inakzeptabel.“
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.