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Ein Viertel im Ausnahmezustand

von Mirjam Schmitt · 27. Mai 2014

Vergangene Woche wurden zwei Menschen im Istanbuler Stadtteil Okmeydani getötet. Immer wieder kommt es in dem Arbeiterviertel zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Anwohner wehren sich gegen eine Instrumentalisierung.

Etwa fünf Kilometer vom Taksim-Platz entfernt, liegt der Istanbuler Bezirk Okmeydanı, in den sich selten ein Tourist verirrt und der oft in den Schlagzeilen ist. So auch vergangene Woche: Am vergangenen Donnerstag wurde der 30-jährigen Uğur Kurt ins Gesicht geschossen, als gerade auf einer Beerdigung war. Er starb kurz darauf im Krankenhaus.

Bei anschließenden Straßenkämpfen im Viertel starb eine zweite unbeteiligte Person: Der 40-jährige Ayhan Yılmaz wurde nach Angaben des Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu von einer Splittergranate tödlich verletzt. Details sind nicht bekannt. In der Nacht zum Samstag lieferten sich Demonstranten weitere Schlachten mit der Polizei. Mehrere Menschen wurden verletzt, darunter mindestens sieben Polizisten.

Tod durch Polizeischüsse

Besonders der Tod von Uğur Kurt ist brisant. Vieles weist darauf hin, dass er von der Polizei erschossen wurde. Als der Schuss fiel, stand er auf dem Gelände des Cemevis, dem Gebetshaus der Aleviten. Zeynel Şahın, Vorsitzender des Vereins der für das Cemevi verantwortlich ist, sagt: “Wir haben Schüsse gehört. Menschen sind von der Polizei geflüchtet und die Straße heruntergelaufen. Uğur Kurt ist einfach umgefallen. Wer geschossen hat, habe ich nicht nicht gesehen. Alles ging so schnell.“

Anwohner und türkische Medien berichten, die Polizei hätte eine wöchentliche Gedenkveranstaltung für den 15-jährigen Berkin Elvan und die Opfer des Bergwerksunglücks in Soma  auseinandergetrieben. Ein Augenzeuge sagte, die Polizisten hätten mit scharfer Munition in die Menschenmenge geschossen. Der  Schuss sei aus einer 9mm Pistole abgefeuert worden,  so steht es im Autopsiebericht. Das weist auf eine Polizeikugel hin. 20 Polizeiwaffen seien zur ballistischen Untersuchung geschickt worden, hieß es von offizieller Seite. Der Istanbuler Gouverneur Mutlu hat eine umfassende Untersuchung angekündigt.

Ausnahmezustand seit Gezi-Protesten

Der Staatsanwalt traf allerdings erst am Freitag – mehr als 24 Stunden nach dem Schuss – am Cemevi ein. Tausende Menschen hatten sich zu dem Zeitpunkt in Gedenken an Uğur Kurt versammelt. Die Anwohner versuchten die blutverschmierte Stelle an der Kurt starb mit Bänken und Laken zu schützen, damit keine Spuren verwischt werden. In der Nacht zu Samstag lieferten sich die Demonstranten erneut Straßenschlachten mit der Polizei. Die Demonstranten warfen Molotov-Cocktails, die Polizei antwortete mit Tränengas und Plastikgeschossen.

„Der Stadtteil Okmeydani befindet sich seit den Gezi-Protesten quasi im Ausnahmezustand“, schreibt der türkische Journalist Ismail Saymaz, der selbst aus dem Viertel stammt. Das letzte Mal war das Viertel im März in den Schlagzeilen. Der 15-jährige Berkin Elvan, der im Sommer von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde, starb nach neun Monaten Koma. Er war nicht an Demonstrationen beteiligt, sondern wollte nur Brot kaufen gehen. Kurz darauf wurde der 22-jährige Burakcan Karamanoğlu erschossen, bei Auseinandersetzungen zwischen zwei rivalisierenden Gruppen. Was genau vorgefallen ist, ist bis heute unklar.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Tod der beiden jungen Männer vor der Kommunalwahl Ende März genutzt, um die Stimmung weiter zu polarisieren. Während er Burakcan Karamanoğlu als „Märtyrer“ bezeichnete, nannte er Berkin Elvan einen „Terroristen“.  Erdoğan nutze damit die ohnehin schon bestehende Teilung des Viertels aus – in einen konservativen, sunnitischen Teil, der die AKP unterstützt und in einen Teil in der hauptsächlich von Aleviten bewohnt wird und politisch Links orientiert ist.

Unterschiedliche Wahrnehmung, unterschiedliche Helden

Diese Teilung ist nicht offiziell, macht sich jedoch optisch bemerkbar. Parteifahnen der AKP wehen in dem einen Teil. Graffitis an der Wand kündigen an, das Okmeydanı ein „Friedhof für Kommunisten“ werde. In den Läden hängen Bilder des getöteten Burakcan Karamanoğlu. Jenseits der „Grenze“ haben sich radikale linke Gruppierungen an der Wand verewigt. Okmeydanı wird hier zum „Friedhof für Faschisten“ und Bilder des getöteten Berkin Elvan hängen in den Geschäften.

Okmeydani ist ein Arbeiterviertel. Viele Menschen arbeiten in der Textilbranche oder besitzen kleine  Läden. Eigentlich haben die Anwohner andere Sorgen. Eines der vielen Stadterneuerungsprojekte soll in Okmeydanı umgesetzt werden. Die Menschen müssen dafür ihre Häuser aufgeben. Ob sie dafür entschädigt werden, ist noch unklar. Statt sich nun gemeinsam um ihre Häuser zu sorgen, hält die Einwohner das Tagesgeschehen in Atem.

 „Es gab schon früher Auseinandersetzungen mit der Polizei hier, aber nicht jeden Tag“, sagt ein Anwohner. „Meine Verwandten wollen mich schon gar nicht mehr hier besuchen.“ Sowohl Polizisten als auch Demonstranten gehen in Okmeydanı besonders hart vor. Gruppierungen wie die linksradikale Halk Cephe, die viele Anhänger in Okmeydanı haben , liefern sich harte Straßenkämpfe mit der Polizei. 

Es fehlen die Zwischentöne

Erdoğan jedoch zeichnet gerne in schwarz und weiß –vergisst zu gerne Grautöne. Er macht keinen Unterschied zwischen Gruppierungen und bezeichnet seine Kritiker grundsätzlich als „Provokateure“ und „Terroristen“. Nachdem Uğur Kurt erschossen wurde, nahm er die Polizei in Schutz und sagte, er wundere sich über ihre Geduld.

Diese Aussagen beunruhigen vor allem die alevitische Community. Am Sonntag riefen alevitische Kulturvereine zu Demonstrationen in mehreren türkischen Städten auf, unter anderem in Istanbul und Ankara. In einer Erklärung wehren sie sich gegen politische Instrumentalisierung und Diskriminierung. Die Aleviten lassen sich dem schiitischen Islam zurechnen. Die alevitische Minderheit in der vorrangigen sunnitischen Türkei wird auf 20 Prozent geschätzt.

„Hier wäre die Hölle los, wäre jemand im Garten einer Moschee erschossen worden“, sagt eine 40-jährige Frau. „Ich möchte keine Teilung in „Wir“ und „Ihr“. Die türkische Gesellschaft wird durch solche Aussagen weiter polarisiert , dagegen wehren wir uns“, sagt sie.

Autor*in
Mirjam Schmitt

Mirjam Schmitt ist freie Autorin.

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