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"Ein Kompromiss ist richtig unpopulär"

von Carl-Friedrich Höck · 10. Dezember 2013

Ursula Koch-Laugwitz leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Im Interview mit vorwärts.de schildert sie die Lage in der ukrainischen Hauptstadt und erklärt, warum es schwer wird, im Konflikt zwischen Regierung und Opposition zu einer Verhandlungslösung zu kommen.

vorwärts.de: Heute Nacht ist das Ultimatum für die Besetzer des Kiewer Rathauses abgelaufen. Sie sollten es bis Mitternacht räumen. Wie ist jetzt die Situation dort?

Ich bin gegen heute Morgen gegen neun Uhr auf dem Weg zur Arbeit am Unabhängigkeitsplatz vorbeigelaufen. Da war das Rathaus nicht geräumt. Ein paar Polizeieinheiten standen auf der Straße, wahrscheinlich, um den weiteren Zufluss von Demonstranten in die Innenstadt zu kontrollieren oder zu unterbinden. Laut Gerüchten – und Gerüchte spielen in dieser Gesellschaft eine sehr große Rolle – haben gestern schon einige Demonstranten das Gebäude verlassen, weil sie es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen wollten. Aber viele haben auch wieder im Rathaus und im ebenfalls besetzten Gewerkschaftshaus übernachtet. Das kann auch nicht verwundern, denn es ist empfindlich kalt geworden. Es ist angenehmer, auf dem Rathausflur zu übernachten, als an einem Lagerfeuer auf dem Unabhängigkeitsplatz.

Ukrainische Sicherheitskräfte haben laut Medienberichten Barrikaden abgeräumt und Demonstranten aus dem Regierungsviertel vertrieben. Können Sie das bestätigen?

Das stimmt. Nach der großen Demonstration am Sonntag sind ja kleinere Barrikaden im Umfeld von Regierungsgebäuden errichtet worden. Die sind gestern Abend ziemlich umfassend, aber nach meinem Kenntnisstand friedlich geräumt worden. Mit einer Ausnahme gab es keine Übergriffe, weder von den Demonstranten noch von den Sicherheitskräften. An einer Stelle gab es aber Zwischenfälle mit Verletzten auf beiden Seiten. Vermutlich waren da auch Provokateure mit im Spiel.

Was meinen Sie damit? Will die Regierung mit Provokateuren gewaltsame Auseinandersetzungen bewusst anheizen?

Das ist zumindest eines der Gerüchte: dass die Regierung einen Anlass schaffen will, um mit den Sicherheitskräften durchzugreifen. So muss es aber nicht gewesen sein. Vor acht Tagen gab es ja den Vorfall, dass einige junge Ukrainer mit einem Traktor zum Regierungssitz von Janukowitsch vordringen wollten. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen. Die Opposition sagt nun: Das waren landesweit bekannte Krakeeler, die wohl aus dem Umfeld rechtsextremer Parteien stammen. Die sind dafür bekannt, dass sie immer dabei sind, wenn es irgendwo im Land die Chance auf eine Schlägerei gibt.

Wie erleben Sie denn die Demonstranten? Sind sie friedlich, oder steigt dort die Gewaltbereitschaft?

Ich versuche mal, die Demonstranten zu kategorisieren, auch wenn das nur oberflächlich funktioniert. Am Sonntag haben mehrere hunderttausend Leute demonstriert. Das sind überwiegend Leute aus der Mittelschicht, Menschen mit Kindern und Enkelkindern, auch ganz viele junge Leute. Sie haben ein ganz schlichtes Interesse: Sie möchten ein normales Leben führen können. Und die Mehrheit glaubt, dass die Aussichten dafür unter europäischen Bedingungen besser sind als unter russischen.

Ein Teil der Demonstranten fühlt sich seit 2010, als Janukowitsch Präsident geworden ist, nicht mehr richtig regiert. Sie wollen, dass jemand anderes in das Präsidentenamt einzieht. Andere haben generell "die Schnauze voll" vom politischen Establishment, also auch von den Oppositionsparteien. Denn den Glauben, dass es mit einem Machtwechsel allein besser wird, haben viele Ukrainer verloren. In den Auseinandersetzungen der letzten Jahre ging es leider oft nicht um politische Inhalte, sondern nur um die Macht.

Und eine verschwindend geringe Minderheit freut sich einfach, wenn sie einen Anlass hat, um sich mit jemandem prügeln zu können.

Gegen den früheren Außenminister Arseni Jazenjuk wird nun wegen eines versuchten Staatsstreichs ermittelt. Will die Regierung ein Drohpotential aufbauen?

Ich denke, die Regierung war schlicht überrascht, dass da plötzlich so viele Leute auf der Straße gestanden und gesagt haben: Mit uns nicht, wir wollen nach Europa! Mit der erhöhten Präsenz von Sicherheitskräften und den Ermittlungen gegen Jazenjuk präsentiert sie jetzt die "Folterinstrumente", die sie zur Verfügung hätte. Gestern gab es viele Befürchtungen, dass der Ausnahmezustand ausgerufen würde. Aber wenn man sich überlegt, wie viele Leute auf den Straßen protestieren, ist das alles bisher relativ friedlich verlaufen. Nach meinem Eindruck wäre die Staatsführung "mit dem Klammerbeutel gepudert", wenn sie es nun auf eine gewaltsame Eskalation ankommen lassen würde. Das würde langfristig auch ihre Macht unterminieren.

Angeblich haben die Sicherheitskräfte heute Nacht auch die Parteizentrale der Vaterlandspartei von Julija Timoschenko gestürmt...

Das hat die Pressesprecherin der Timoschenko-Partei behauptet. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Es gibt Bilder von ein paar maskierten Männern, die in das Gebäude eindringen. Aber die Polizei hat bestritten, dass sie irgendetwas damit zu tun hat.

Heute ist die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nach Kiew geflogen, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Wie aussichtsreich sind solche Verhandlungen?

Verhandlungen sind das einzige Mittel der Wahl. Aber sie werden schwierig. Das politische Establishment der letzten 20 Jahre ist hier überhaupt nicht gewohnt, miteinander zu reden und nach Kompromissen zu suchen. Ein Kompromiss ist richtig unpopulär. Denn hier war es immer so: Man erobert die Macht, und wenn man sie hat, räumt man erstmal mit seinen Gegnern auf. Falls es jetzt gelingt, unter Vermittlung der EU in einen Dialogprozess einzusteigen, wird das viel Zeit in Anspruch nehmen.

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Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

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