Ein demokratisches Desaster: Warum Frankreich nicht wählt
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Stell dir vor, es ist Wahl und keiner geht hin. Exakt das ist in ganz Frankreich gestern zum zweiten Mal in Folge geschehen. Auch zu diesem entscheidenden Wahlgang der landesweiten Regionalwahlen fand erneut nur ein Drittel der Wahlberechtigten den Weg an die Urnen.
Bereits vor einer Woche in der ersten Runde war das so. Alle Parteien von ganz rechts bis ganz links hatten darob ein „demokratisches Desaster“ beklagt und massiv um die Stimmabgabe der Bürgeri*nnen geworben. Vergebens. Die Wahl - man muss das so deutlich ausdrücken – ging den Menschen am Arsch vorbei, im Norden wie im Süden, in Städten und Industriezentren wie in den ländlichen Gemeinden von la France profonde. Egal ob es ein herrlicher Sonntag am Mittelmeer war oder aber ein ziemlich grau-verregneter in Paris, ob es einen klaren Favoriten gab oder erstmals mit Thierry Mariani ein Rechtsradikaler in der Region PACA (Provence-Alpes-Côte d’Azur) hätte gewinnen können. Niemand hat sich für diese Wahl interessiert: Niemand und Nirgends.
Sind die Gewählten so legitimiert?
Maximal ein Drittel der Wähler hat überhaupt die Stimme abgegeben. Bei den Jungwählern waren es sogar nur 10 Prozent! Desaster ist noch gar kein Ausdruck dafür. Selbst diejenigen, die gestern klar über 50 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnten – ob nun in einer Kampfabstimmung zwischen zwei oder auch vier Kandidat*innen – vertreten real nicht einmal ein Fünftel der Wählerschaft. Da stellt sich deutlich die Frage der Legitimation.
Mancher will als Begründung heranziehen, dass wegen der Covid-Pandemie kein richtiger Wahlkampf habe stattfinden können. Mit Verlaub, das ist Unsinn. Die Menschen hatten erst recht die Zeit, „ihre Wahlentscheidung“ zu bedenken. Es hilft auch nicht festzustellen, dass Regionalwahlen ganz objektiv keine überragende Bedeutung hätten, weil Regionalparlamente wie Regionalpräsidenten im Machtgefüge der fünften französischen Republik keine besonders bedeutsame Rolle spielten. Das stimmt zwar, aber nahezu alle Macron-Gegner, die bürgerliche Rechte und allen voran der rechtsradikale Rassemblement National (ehemals Front National) von Marine Le Pen hatten die Abstimmung schließlich zum bedeutenden und vorentscheidenden Test vor der kommenden Präsidentschaftswahl im April 2022 erklärt und aufgeblasen.
Klare Niederlage für Le Pens Partei
Insofern ist die klare Niederlage von Le Pens Partei umso bedeutsamer. Entgegen allen Prognosen hatte der RN von der niedrigen Wahlbeteiligung eben nicht profitiert, sondern gar verloren. Dieser Trend hat sich in der zweiten Runde noch weiter verstärkt. Und selbst in der Provence, wo der Le Pen-Getreue Mariani im ersten Wahlgang vorne gelegen hatte und die reale Chance bestand, erstmals einen Regionalpräsidenten zu stellen hat das für die Ultra-Rechte nicht mobilisierend gewirkt. Mariani hat sehr klar und deutlich gegen den bisherigen Amtsinhaber Renaud Muselier verloren. Die Rechtsradikalen werden am Ende nicht gewählt.
In allen Parlamenten (13 Regionen im Mutterland, 5 in Übersee outre-mer) haben sich ganz generell die bisherigen Mandatsträger erneut durchsetzen konnten. Die Sozialisten halten ihre fünf Regionen (Bretagne, Bourgogne-Franche-Comté, Centre-Val de Loire, Nouvelle Aquitaine und Occitanie) ebenso, wie die bürgerliche Rechte die ihren.
Linke und Grüne einzeln chancenlos
Allerdings sind die Erfolge der Linken Kandidat*innen weniger deutlich ausgefallen. Zudem gilt es dringend aus den Resultaten zu lernen, dass nur die Gemeinsamkeit der linken Strömungen mit den Grünen erfolgreich ist. Wo sie gegeneinander kandidierten, scheiterten alle fortschrittlichen Kräfte, zum Teil krachend. Nur wo man zu gemeinsamen Kandidaturen fand, konnte man sich durchsetzen.
Für die Konservativen waren die Erfolge teils mit überraschend klaren Mehrheiten verbunden. Das zeigt, dass zwischen Präsident Emmanuel Macron und der zuvor als stärkste Herausforderin gehandelten Marine Le Pen noch der Platz für eine bürgerliche Rechte bleibt. Das bedeutet zum einen, dass man konstatieren muss: die Mehrheitshaltung hat sich nach Rechts verschoben.
Machtkampf bei den Konservativen
Daraus erwächst aber zweitens ein Problem für die Konservativen: Mit Xavier Bertrand, Laurent Wauquiez und Valérie Précresse setzten sich gleich drei Parteigrößen durch, die weitergehende Ambitionen haben und im nächsten Jahr gegen Macron antreten wollen. Der Machtkampf ist vorprogrammiert, selbst wenn Madame Précresse wohl zugunsten von Xavier Bertrand zurückziehen dürfte (um im Falle von dessen Erfolg Premierministerin zu werden).
Bleibt Macron. Mit seiner Präsidentschaftskandidatur hatte er vor vier Jahren das bisherige französische Parteiensystem hinweggefegt – allerdings ohne auch nur ansatzweise etwas neues dafür einsetzen zu können. Seine damalige Bewegung La Republique en Marche LREM hat es nie und zu keinem Zeitpunkt geschafft, selbst Partei zu werden und eine nennenswerte Verankerung in der Bevölkerung zu finden. Ganz im Gegenteil, Schwung und Enthusiasmus sind weg, ebenso wie die Menschen, die sich 2017 voller Freude auf eine neue, andere Politik einbringen wollten.
Gute Zustimmungswerte für Macron
LREM-Kandidat*innen haben bei sämtlichen Abstimmungen - ob nun bei Kommunal- oder Regionalwahlen – Schiffbruch erlitten und landeten unter ferner liefen. Für Macron selbst und seine kommende Kandidatur muss das nicht zwingend etwas heißen. Seine persönlichen Werte sind unterdessen für einen amtierenden Präsidenten mit 40 Prozent Zustimmung sehr gut (zwei bis drei Mal besser als bei seinen Vorgängern zum vergleichbaren Zeitpunkt). Und vor allem ist und bleibt die Präsidentschaftswahl ein Personenvotum für das es nicht zwingend einer funktionierenden Partei bedarf.
Aber das demokratische System in Frankreich, das hat schwer Schaden genommen. Es scheint vielen Französinnen und Franzosen nicht einmal mehr eine Proteststimme wert zu sein.