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Die Zeit des Widerstands ist gekommen

von Lutz Hermann · 31. Oktober 2011
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Seit dem seine 28-seitige Protestschrift genau ein Jahr auf dem Markt ist, war er ständig zu Einladungen, Konferenzen, Tagungen und Seminaren unterwegs. Jetzt muss der alte Mann eine Pause machen. Bald will er wieder bereit sein, jene Menschen zu besuchen, die mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen in Frankreich höchst unzufrieden sind.

Den Jahrestag der Buchveröffentlichung feiert er nicht. Das liege nicht in der Tradition seines Verlegers Jean-Pierre Barou, der vorwärts-online die Reiseziele des ehemaligen Botschafters aufsagt: Berlin, dort gleich dreimal (er wurde 1917 in Berlin geboren), Madrid, New York, Rom. In über 30 Sprachen sei "Empört Euch!" übersetzt worden, zuletzt ins Südkoeranische. Bei vielen Demonstrationen, fügt Barou hinzu, würde sein Buch, seine Kritik und seine Wut zitiert: Über die Gier der Finanzmärkte, den Fremdenhass, die tiefer werdende Kluft zwischen arm und reich und über die Ungerechtigkeit in allen Teilen der Welt.

Das Schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz

Die jungen Spanier der Hauptstadt waren die ersten, die als indignés gegen die Regierung protestierten. Am 17. September tauchte in New York die Bewegung Occupy Wall Street (OWS) auf, die Hessels Buch nur vom Hörensagen kannte. Ihr Ruf "Wir sind 99 Prozent!" erinnerte Viele an die Forderung in der ehemaligen DDR: "Wir sind das Volk".

Der Autor aus Paris beeindruckte die Amerikaner. Hessels Biografie ging durch die Spalten der Presse: Er hatte im französischen Widerstand gekämpft, das KZ Buchenwald überlebt, gehörte 1948 zu den Mitbegründern der Erklärung der Menschenrechte und er konnte sich als Botschafter ein Bild von der Misere in vielen Ländern machen. Eine Vorzeige-Karriere, die den Mann international bekannt und sympathisch machte. Und als seine Anhänger hörten, er habe auf das gesamte Buchhonorar verzichtet, strömten noch mehr Fans zu ihm.

Stéphane Hessel, der in einer kleinen bescheidenen Wohnung im 14. Pariser Arrondissement lebt, ist ein gefragter Schriftsteller geworden. Zwei Millionen Exemplare gingen allein in Frankreich über den Ladentisch, über eine Million im Ausland. Vor ein paar Monaten hat er ein zweites bestsellerverdächtiges Buch herausgebracht, "Engagiert Euch!" (Engagez-vous!). Darin schlägt er ein von den Vereinten Nationen zu gründendes Gremium für Soziales und Wirtschaft vor, das sich nach dem Modell des UN-Sicherheitsrates an die ökologische Bedrohung der Welt kümmern sollte. "Die Zeit des Widerstands ist gekommen", schreibt er und ruft seine Leser auf: "Verteidigt den Rechtsstaat, die Demokratie und die Pressefreit". Das Schlimmste aller Haltungen sei die Indifferenz!

So trat er am 16. Oktober auch auf einem "Internationalen Protesttag" in Graz auf, wo tausende Österreicher gegen Lebensmittel- und Ressourcenzerstörung und Kürzungen im Sozialhaushalt protestierten. Am Ende des Aufmarsches klatschten sie begeisert Beifall, als sich der alte Mann aus Paris auf der Tribüne zeigte, um die Menschen in ihrem Zorn über die vielen Missstände zu unterstützen.

Gast bei Francois Hollande

Eine besondere Ehre bereitete ihm die sozialistische Opposition, als der 57-jährige Ex-Parteichef Francois Hollande Mitte Oktober zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten ausgerufen wurde. Hessel durfte auf einem Ehrenplatz dabei sein. Dass er kein Freund des Staatschefs Nicolas Sarkozy ist, dürfte in Paris kein Geheimnis sein. Er will trotzdem unabhängig seine Meinung sagen dürfen. Mit dem Soziologen Edgar Morin bringt er nun ein drittes Buch heraus: "Die Wege der Hoffnung" (Les chemins de l´esperance), wieder eine Streitschrift und ein Aufruf, sich zu engagieren, einzumischen und Stellung zu beziehen.

Voller Bewundertung ist der Direktor des Internet-Nachrichtendienstes "Mediapart", Edwy Plenel, der den Erfolg des betagten Autors, der lange im Diplomatischen Dienst stand, auch darauf zurückführt, dass er, Stéphane Hessel, eben das genaue Gegenteil des Präsidenten der Republik sei.

Autor*in
Lutz Hermann

ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).

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