"Wir sind alle Khalid Said." Dies ist der Name einer Facebook-Gruppe mit mittlerweile über 930.000 Mitgliedern. Der 28-Jährige war im Juni 2010 von Polizisten in Zivil in einem Internet-Café in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria festgenommen und anschließend zu Tode geprügelt worden. Der von Amnesty International dokumentierte Fall, nur einer von vielen, erregte großes Aufsehen in der ägyptischen und internationalen Öffentlichkeit.
Zusammen mit weiteren Gruppierungen, wie der "6. April-Jugend", die sich nach Streiks von Textilarbeitern in der Stadt Mahalla el-Kubra im Jahr 2008 gegründet hatte, entstand so ein lockerer Zusammenschluss von Hunderttausenden, zumeist jungen Menschen, die die Repression der Regierung und die massiven sozialen Missstände im Land nicht länger akzeptieren wollten.
Seit 30 Jahren Ausnahmezustand
Inspiriert und ermutigt vom Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali Mitte Januar riefen diese Gruppen dazu auf, den "Tag der Polizei" am 25. Januar, einem Feiertag in Ägypten, in einen
"Tag des Zorns" gegen das Regime zu verwandeln. Die Demonstrationen dieses Tages waren der Auftakt eines 18-tägigen Protestes, der letztlich zum Rücktritt des seit 30 Jahren herrschenden
Staatspräsidenten Husni Mubarak führte. Mindestens 300 Menschen starben im Verlauf der Proteste, Tausende wurden verletzt. Die Sicherheitskräfte begingen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen,
insbesondere durch die Anwendung übermäßiger Gewalt gegen Demonstranten und die gezielte Einschüchterung von Aktivisten. Am 3. Februar wurden zum Beispiel zwei Amnesty-Mitarbeiter und etwa 30
ägyptische Menschenrechtsaktivisten durch Angehörige der Militärpolizei festgenommen und erst nach mehr als 24 Stunden wieder freigelassen. Ein junger ägyptischer Demonstrant berichtete Amnesty,
er sei nahe des Tahrir-Platzes am 3. Februar aufgegriffen und von Sicherheitskräften gefesselt und gefoltert worden.
Mit dem Rücktritt Mubaraks endeten die Proteste zunächst, und der Hohe Militärrat, geführt von Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi, übernahm die Macht in Ägypten. Die Verfassung wurde außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst. Anfang März wurde Essam Scharaf zum Ministerpräsidenten ernannt. Aus Sicht der Opposition ein wichtiger Schritt, da Scharaf als politisch integre Persönlichkeit gilt. Allerdings: Trotz Ankündigung des Militärrats wurde der Ausnahmezustand bislang nicht aufgehoben. Der Ausnahmezustand gilt in Ägypten mit einer kurzen Unterbrechung seit 1967. Er erlaubt den Sicherheitskräften unter anderem willkürliche Verhaftungen ohne rechtsstaatliche Grundlage.
Teile der Verfassung sollen durch eine Mitte Februar vom Militärrat eingesetzte Kommission überarbeitet werden, die mittlerweile auch erste Vorschläge vorgelegt hat. Auffällig ist die heterogene Zusammensetzung dieser Kommission, da auch Kritiker der alten Regierung - darunter ein Vertreter der Muslimbrüder - vertreten sind. Diese Entwicklung stellt ebenfalls einen Erfolg für die Opposition dar.
Militär kontrolliert Wirtschaftsimperium
Dennoch bleibt die zentrale Frage bestehen, wie ernst es dem Hohen Militärrat mit seinen Reformbemühungen ist. Schließlich ist das Militär Teil der alten Ordnung und darauf bedacht, auch in
Zukunft seine herausgehobene Stellung zu erhalten. In Ägypten hat das Militär nicht nur massiven Einfluss auf die Politik. Es kontrolliert zugleich ein Wirtschaftsimperium, das Schätzungen
zufolge bis zu 20 Prozent der ägyptischen Wirtschaft umfasst. In einer Demokratie wäre dieser Apparat kaum aufrechtzuerhalten. Deshalb ist es denkbar, dass das Militär nur scheinbar einen
Reformkurs einleitet, letzten Endes aber eine Militärherrschaft zu konsolidieren versucht. Ein zentraler Punkt wird hierbei die Durchführung von Wahlen sein, die spätestens am Ende der zunächst
auf sechs Monate angesetzten Übergangsphase stattfinden sollen. Wenn diese tatsächlich frei sind und das Militär die Ergebnisse respektiert, auch wenn etwa die Muslimbrüder einen hohen
Stimmenanteil erzielen sollten, ist eine nachhaltige Demokratisierung und Stabilisierung Ägyptens möglich. Eine Politik von Scheinreformen dürfte hingegen zunehmende Instabilität, wenn nicht gar
eine Radikalisierung innerhalb der Opposition zur Folge haben.
Für Amnesty International ist unerlässlich, dass der politische Wandel in Ägypten auch zur umfassenden Einhaltung der Menschenrechte führt. Amnestys "Agenda für den Wandel" fordertdie Beendigung des Ausnahmezustands und damit ein Ende willkürlicher Inhaftierungen, Folter und unfairer Prozesse. Die ägyptische Regierung muss das Recht der ägyptischen Bevölkerung auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gewährleisten. Außerdem muss den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten der Menschen in Ägypten Geltung verschafft werden. Denn für ein würdevolles Leben ist ein angemessener Lebensstandard unabdingbar.
Revolution endet, wenn sich die Demokratie durchgesetzt hat
Die Rechte der Ägypterinnen verdienen besondere Beachtung, ebenso wie der Schutz von Minderheiten, gleich ob religiöse, soziale oder ethnische Gruppen. Darüber hinaus fordert Amnesty die
Abschaffung der Todesstrafe, deren Verhängung in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat. Für den Prozess der Umgestaltung des ägyptischen Staates ist zudem eine Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit notwendig - und damit auch eine rechtsstaatliche Aufarbeitung aller Menschenrechtsverletzungen. Nur ein Prozess, in dem die relevanten Akteure all diese Punkte ernsthaft
aufgreifen, kann zu einer dauerhaften Stabilisierung und politischen Öffnung Ägyptens führen.
Der Gründer der Facebook-Seite "Wir sind alle Khalid Said", Wael Ghonim, ist zu einer Symbolfigur der Protestbewegung geworden. Kurz nach dem Rücktritt Mubaraks twitterte er: "Diese Revolution ist erst beendet, wenn sich die Demokratie durchgesetzt hat!" Das ägyptische Volk hat keine Angst mehr vor Unterdrückung und Gewalt. Es wird wieder auf die Straße gehen, wenn die notwendigen Reformen nicht umgesetzt werden.
Beide Autoren sind Mitglieder der Ägypten-Ländergruppe von Amnesty. Weitere Informationen auf www.amnesty-aegypten.de und info@amnesty-aegypten.de
Der Beitrag ist erschienen im
Amnesty Journal April 2011: Viva la Justicia
Lesen Sie hierzu auch den Beitrag: "
Zivilisten unter Beschuss", über den Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali.