Wir fordern die junge Generation auf: "Nehmt das Steuer in die Hand und empört euch!" Das ist einer der Kernsätze des flottformulierten Pamphlets. Was den vielfach Geehrten, Zeitzeuge der
Unterzeichnung der UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948, so aufregt, ist für ihn ein marodes, politisch kaputtes Gesellschaftsbild. Die Gräben zwischen arm und reich würden tiefer, klagt er,
"die Finanzmärkte diktierten das Geldgeschäft, die Sozialkassen würden geplündert, unser Planet zerstört" und die Palästinenser, blicke man nach Nahost, befänden sich im Schraubstock der
Israelis. Laute Empörung sei angesagt. Positiv vermerkt er indessen die Entkolonisierung in Afrika, das Ende der Apartheit und den Fall der Berliner Mauer.
Innenminister äußert sich rassistisch
Alles, was der alte Mann mit jugendlichem Elan aufgreift, ist bei der Betrachtung des Zustandes der Welt allerdings nicht neu. Präsident Nicolas Sarkozy hat die Empörung am eigenen Leib
erfahren, als ihm die EU-Behörden schändlichen Umgang mit den Roma vorwarf. Sein Innenminister Brice Hortefeux wurde wegen rassistischer Äußerungen zweimal verklagt. Doch diesmal ergreift eine
angesehene Persönlichkeit aus der Zeit des französischen Widerstands das Wort. Da hört man zu, da ist das Interesse der großen Medien auf ihn fokusiert.
Wer ist der zornige Verfasser, der Frankreich die Leviten liest?
In Berlin als Sohn des
deutsch-jüdischen Schriftstellers Franz Hessel geboren, wurde er 1939 französischer Staatsbürger, stieß 1941 zur Résistance gegen
den deutschen Besatzer, kam 1944 ins KZ Buchenwald und konnte sich durch Flucht in letzter Minute retten. Seine Regierung schickte ihn nach Kriegsende als Topdiplomat nach New York. Heute gehört
er zum letzten noch lebenden Mitunterzeichner der UN-Menschenrechtserklärung. Einer solchen Persönlichkeit nehmen die Franzosen gern Empörung und Protest ab.
Die Reaktion auf das Büchlein ist enorm. Der Verleger druckt die 12. Auflage. Drei Euro für die 32 Seiten sind schnell gezahlt. Vielen Menschen spricht der alte Herr, der diskret und
zurückgezogen in einer kleinen Wohnung im 14. Arrondissement von Paris lebt, aus dem Herzen. Wo der linke Ex-Diplomat jedoch weniger Verständnis findet ist sein Bezug auf die politisch-moralische
Grundlage des Widerstands: Sie müsse wieder respektiert werden, denn das gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance sei heute in Gefahr, schreibt er. Er setzt den Kampf gegen
den Nazismus mit der Empörung gegen die heutige Soziallage gleich. Junge Menschen werden das kaum verstehen. Die NS-Vergangenheit, sagen in Frankreich viele, braucht für den Protest gegen
heutigen skandalösen Zustände wohl nicht bemüht zu werden.
Die Franzosen am pessimistischsten
Die Veröffentlichung der Streitschrift nahm die angesehene Abendzeitung "Le Monde" zum Anlass, bekannte Autoren auf zwei Seiten zu fragen, was sie denn am meisten in ihrer Heimat empöre.
Viele Antworten waren vorauszusehen und überraschte die Leser nicht: Wie die Pariser Regierung mit Einwanderern, hier den Romas, umgehe. Wie Präsidentenreisen für Waffenverkäufe genutzt werden
("Sarkozy in Brasilien für den Export des Jagdflugzeuges Rafale"), wie üppig sich Parteien von renommierten Vermögenden (Bettencourt) bezahlen lassen oder Banker sich mit unverschämter Lügerei
aus undurchsichtigen Geschäften winden. Ein "Le Monde"-Autor verweist auf eine Meinungsumfrage, nach der die Franzosen, was die Politik betrifft, derzeit das "pessimistischste Volk der Welt"
seien. Kein Wunder: Der miserable Zustand in der Nachbarschaft und draußen in der Welt macht auch sie zornig.
ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).