Der neue alte Hass: „Antisemitismus 2.0“
„Nicht weniger als ein Wunder“ sei es, dass es heute wieder jüdisches Leben in Deutschland gebe, sagt Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Dienstag in Berlin. „Ausgerechnet“ die deutsche Hauptstadt sei für viele junge Juden aus aller Welt ein „Magnet“. Trotzdem, so zeigt die Konferenz der interparlamentarischen Koalition zur Bekämpfung des Antisemitismus, sind Juden in Deutschland alles andere als sicher.
Ist Facebook mit dem Hass überfordert?
Simon Milner von der Firma Facebook kennt den Hass im Internet. Sein Unternehmen bemühe sich, gegen Antisemitismus und Rassismus vorzugehen. Dafür brauche es aber die Unterstützung der Nutzer. Diese sollten Hassreden melden, Facebook überprüfe jede Meldung, verspricht Milner. Am wirksamsten sei die Gegenrede von Prominenten – von Politikern oder Regierungen verbreitete Kommentare seien dagegen wenig effektiv, um menschenfeindlichen Botschaften in Online-Foren Einhalt zu gebieten.
Vor allem junge Menschen seien gefährdet, den Verschwörungstheorien im Internet auf den Leim zu gehen, befürchtet Harlem Désir, Staatsminister im französischen Außenministerium. „Wir müssen diesen Kampf gewinnen,“ sagt er und nimmt die Online-Unternehmen in die Pflicht: Diese müssten „mitspielen“ im Kampf gegen die antisemitische Hetze im Netz – den „Antisemitismus 2.0“, wie es der italienische Justizminister Andrea Orlando nennt.
Gibt es „importierten“ Antisemitismus?
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die von den internationalen Parlamentariern mit begeistertem Applaus empfangen wurde, beschwört die Religions- und Glaubensfreiheit in Deutschland. Antisemitismus beginne mit Vorurteilen und münde häufig in Gewalt. In vielen arabischen Staaten gebe es eine weite Verbreitung antisemitischer Einstellungen – Sorgen über wachsende Judenfeindlichkeit in Deutschland seien angesichts der Zuwanderung aus diesen Ländern „völlig legitim“.
EU-Kommissar Frans Timmermans setzt einen anderen Fokus: Ein Junge mit Kippa und ein Mädchen mit Kopftuch – beide seien in vielen Ländern der gleichen Diskriminierung ausgesetzt, betont er. Als in den Niederlanden Molotow-Cocktails auf eine Moschee flogen, seien die jüdischen Gemeinden die ersten gewesen, die ihre Solidarität mit den Muslimen ausdrückten. „Wenn eine Minderheit ausgegrenzt wird, schadet das allen in der Gesellschaft,“ sagt der Sozialdemokrat. Antisemitismus dürfe kein „Immigrationsthema“ sein, sondern sei eine „strafrechtliche Aufgabe“.
Die Grenzen der Meinungsfreiheit
Auch Bundesjustizminister Heiko Maas verwehrt sich dagegen, die Gesellschaft auseinander zu dividieren. Der Kampf gegen Antisemitismus bedeute, sich für gesellschaftliche Vielfalt einzusetzen. „Antisemiten haben in der Regel auch Vorurteile gegen Homosexuelle und Muslime“, sagt Maas. Es sei richtig, dass in Deutschland die Grenzen der Meinungsfreiheit enger seien als in anderen Staaten, wenn es um die Leugnung der Shoah geht.
Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit werde versucht, judenfeindliche Parolen in die Gesellschaft zu tragen, betonen viele Konferenzteilnehmer. Laut Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, habe die AfD mit der Forderung nach einem Beschneidungsverbot den muslimischen und jüdischen Glauben zugleich attackiert.
Kein Schlussstrich unter die Geschichte
Viele Menschen wollten einen Schlussstrich ziehen unter die deutsche Geschichte, sagt Thomas Oppermann, Chef der SPD-Bundestagsfraktion. Dass dies nicht zugelassen werden dürfe, darüber waren sich die Teilnehmer der internationalen Konferenz einig. Konsens herrschte auch über die wichtigste Strategie gegen Antisemitismus: Nur durch Bildung könne die Judenfeindlichkeit effektiv bekämpft werden – damit auch der Hass im Internet eines Tages weniger wird.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.