International

Corona in Großbritannien: „Leere Regale und Warteschlangen sind zurück.“

Wegen einer mutierten Form des Corona-Virus ist Großbritannien weitgehend vom Rest Europas abgeschnitten. Thomas Fröhlich von der SPD London beschreibt die Siutation vor Ort und sagt, warum die Grenzschließungen Boris Johnson beim Brexit nutzen könnten.
von Kai Doering · 23. Dezember 2020
Fußgängerzone in London: das soziale Leben praktisch auf Null heruntergefahren
Fußgängerzone in London: das soziale Leben praktisch auf Null heruntergefahren

Wie ist die Corona-Situation in London im Moment? 

London befindet sich momentan im „Tier 4“-Lockdown. Das bedeutet, dass das soziale Leben praktisch auf Null heruntergefahren wurde. Man darf London nicht verlassen und auch – trotz zunächst anders lautender Versprechungen – keine Freunde oder Verwandten zu Weihnachten besuchen. Theater, Museen, Kinos, Fitnessstudios, sowie Pubs und Bars sind geschlossen. Restaurants und Cafés düfen take-away anbieten. Geschäfte, die keine essentiellen Produkte anbieten, müssen ebenso schließen.

Und hier zeigt sich eine britische Eigenheit, die vielleicht auch erklären kann, wie es soweit kommen konnte: Kleinere Geschäfte außerhalb des Kernzentrums haben ihr Sortiment erweitert, um als essentiell behandelt zu werden. So kann man beispielsweise Mehl und Bohnen im Handyreparaturgeschäft kaufen oder Desinfektionsmittel im Whiskyladen. Insofern geht das Leben weiter. Gleichzeitig haben die kurzfristige Änderung der Regeln vor Weihnachten und die Grenzschließungen Europas einen Sturm auf die Supermärkte ausgelöst. Leere Regale und Warteschlangen sind wieder zurück, wenn auch nicht im Ausmaß des Frühjahrs.

Was bedeuten die Grenzschließungen für Sie persönlich?

Persönlich bin ich davon nicht betroffen. Meine Frau und ich hatten bereits Anfang Dezember schweren Herzens entschieden, dieses Jahr auf den Weihnachtsbesuch in Deutschland zu verzichten. Wenn einem diese Möglichkeit offensteht, halte ich das für die beste Entscheidung. Gleichzeitig habe ich viele Freunde und Bekannte in London, die eben nicht in einer so komfortablen SItuation sind und deren Pläne über den Haufen geworfen wurden, obwohl sie selbstverständlich alles erdenklich mögliche getan haben, um ihre Freunde, Verwandten und Mitreisenden zu schützen.

In London haben Coronatests mit „fit to fly“-Zertifikaten in den vergangenen Wochen bis zu 450 Pfund gekostet. Wer solche Kosten auf sich nimmt, hat gute Gründe zu reisen. Niemand möchte seine Verwandten gefährden und ich halte die vielfach verbreitete Unterstellung, dass alle Resien in der Pandemie unverantwortlich sind, für wenig hilfreich.

Hast Sie Verständnis für die Einreisebeschränkungen, die Staaten wie Deutschland eingeführt haben?

Politisch lässt sich eine Grenzschließung während der Pandiemie natürlich toll kommunizieren und damit Engagement für die Bürger demonstrieren. Dass die Maßnahme gerechtfertigt ist, bezweifle ich allerdings, vor allem auch, wenn die Grenzen zu EU-Partnerländern, in denen die Virusmutation bereits nachgewiesen wurde, offen bleiben. Wenn die Grenzschließungen als Warnschuss für Brexit-Britain gedacht sind, dann ist dieser Versuch gleich doppelt nach hinten losgegangen. Denn damit werden der konservativen Presse hier wieder Vorlagen für anti-europäische und anti-deutsche Stimmungsmache geliefert.

Zudem verwischen sie die Pandemie mit dem Brexit, denn die negativen Konsequenzen, die der Brexit mit sich bringt, können nun seitens der britischen Regierung auf Corona geschoben werden. Gleichzeitig muss man sich die Frage stellen, wieso die Einstellung des Flugverkehrs mit China durch US-Präsident Trump im Frühjahr als rassistisch kritisiert wurde, nun aber EU-Staaten ähnliche Instrumente gegenüber Großbritannien anwendet. Insofern halte ich Grenzschließungen für falsch.

Wie verschärfen die Beschränkungen die wegen des Brexits ohnehin schon angespannte Situation in Großbritannien zusätzlich?

Die erwarteten Lieferengpässe durch den Zusammenbruch der Versorgungslogistik sind nun eben schon zehn Tage früher eingetreten. Da Produzenten und Händler hiermit gerechnet hatten, sind die Lager momentan gut gefüllt. Somit sind die unmittelbaren Konsequenzen für die Situation hier überschaubar, vor allem im Vergleich zum Brexit. Der konservativen Regierung um Boris Johnson wurde damit allerdings ein Riesengefallen getan, da sie sich nächste Woche nun weniger oder gar nicht für den missratenen Brexit rechtfertigen müssen, sondern die Schuld glaubwürdig auf Corona und die EU abwälzen können.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare