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„Colonia Dignidad“: Welche Rolle spielte die deutsche Politik?

Von Kindesentführung über Vergewaltigung bis zu Folter und Mord – die Menschenrechtsverletzungen in der chilenischen „Colonia Dignidad“ sind kaum vorstellbar. Das Auswärtige Amt wusste Bescheid, zeigen die Akten. Warum haben die deutschen Diplomaten nichts gegen die Verbrechen unternommen?
von Paul Starzmann · 4. Mai 2016

Das Auswärtige Amt – der Name steht bei vielen für politische Integrität, die oberste diplomatische Behörde der Bundesrepublik genießt in der Welt einen hervorragenden Ruf. Auch bei den Wählern sind die deutschen Außenminister in aller Regel äußerst beliebt. Die Geschichte ihrer Behörde aber zeigt: Das Amt hat alles andere als eine weiße Weste. Zu oft haben deutsche Diplomaten weggeschaut bei Ausbeutung, Folter und Mord – dazu gehören auch die Gräueltaten in der berüchtigten „Colonia Dignidad“ (auf Deutsch: Kolonie der Würde).

Was wusste das Auswärtige Amt?

In der 1961 in Chile gegründeten deutschen Siedlung gehörten Kindesmissbrauch, Prügelstrafen und Zwangsarbeit zur Tagesordnung. Rund 300 Menschen, darunter viele Auswanderer aus Deutschland, lebten bis zur Mitte der 1990er Jahre in der „Colonia Dignidad“. Ihr Anführer, der charismatische deutsche Laienprediger Paul Schäfer, regierte die Siedlung im Herzen Chiles mit harter Hand, er terrorisierte seine Anhänger, missbrauchte deren Kinder, ließ grausame medizinische Experimente an ihnen durchführen. Ein würdevolles Leben, wie es sich viele der Sektenmitglieder erhofft hatten, gab es nicht in der „Colonia Dignidad“.

Der Umgang mit den Opfern der schweren Menschenrechtsverletzungen „ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes,“ sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) vergangene Woche in Berlin. „Bestenfalls weggeschaut“ hätten deutsche Diplomaten über viele Jahre hinweg, als deutsche Siedler versuchten, sich aus den Fängen des gewalttätigen Sektenführers zu befreien. Jugendliche, die vor Misshandlungen in die deutsche Botschaft geflohen waren, seien abgewiesen worden, erklärte Steinmeier. Die Wahrung der Menschenrechte auf anderen Kontinenten sei in den 1970ern „nicht zentraler Gegenstand in der Außenpolitik“ gewesen.

„So ähnlich muss Theresienstadt gewesen sein“

Erst in den 80er Jahren begannen einzelne deutsche Politiker, das Ausmaß der Verbrechen in der „Colonia Dignidad“ zu begreifen. Nach einem Besuch bei der Sekte notierte der deutsche Diplomat Dieter Haller: „So ähnlich muss Theresienstadt gewesen sein.“ Die deutsche Regierung ließ dies jedoch weitgehend kalt, manch ein Unionspolitiker stattete der Kolonie sogar persönlich einen Besuch ab, obwohl auch der Geheimdienst des chilenischen Diktators Augusto Pinochet die Folterkeller der Kolonie für seine Zwecke verwendete. Ein Botschaftsmitarbeiter sagte 1977 über das Anwesen der Sekte: „Ordentlich und sauber – bis zu den Schweineställen“.

Aus den Fehlern in der eigenen Geschichte will das Auswärtige Amt nun Lehren ziehen, betonte Frank-Walter Steinmeier. Das Aktenmaterial in den Archiven der Berliner Behörde soll dafür aufgearbeitet werden, „um es für die Aus- und Fortbildung unserer jungen Mitarbeiter zu nutzen“.

„Es gibt kein Zurück“

Obwohl die Akten noch zehn Jahre der gesetzlichen Geheimhaltungspflicht unterliegen, will Steinmeier die Unterlagen schon jetzt zugänglich machen. Der Lateinamerika-Experte Jan Stehle sagte gegenüber Spiegel Online, er sei von dem Vorhaben positiv überrascht. Es sei höchste Zeit, die Rolle der deutschen Diplomatie im Fall „Colonia Dignidad“ aufzuarbeiten.

Einen Eindruck vom Leben in der Sektenenklave bietet der Spielfilm „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“, der vergangene Woche in Anwesenheit einiger ehemaliger Sektenmitglieder im Auswärtigem Amt gezeigt wurde. Auch das SPD Kulturforum zeigte den Film des Oscar-prämierten Regisseurs Florian Gallenberger bereits in Kooperation mit dem „vorwärts“ in Berlin. Bis heute kämpfen die Opfer für Aufklärung der Verbrechen, fordern Strafen für die Täter. Dass das deutsche Außenministerium nun seine Archive öffnen will, könnte ihnen dabei helfen.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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