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Chance zur Wende?

von Jérôme Cholet · 25. Januar 2010
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Das Erdbeben auf Haiti hätte nicht so schlimme Auswirkungen gehabt, wenn es einen funktionierenden Staat getroffen hätte. Zwar war die Stärke des Bebens außerordentlich und die zahlreichen Nachbeben haben die Hilfsarbeiten erheblich gestört. Hunderttausende konnten jedoch nicht aus den Trümmern geborgen werden, weil es auf Haiti keinen Katastrophenschutz und keine Nothilfepläne gibt. Zehntausende mussten amputiert werden, weil die Krankenhäuser selbst für den normalen Betrieb unzureichend ausgestattet sind. Und viele Häuser wurden geplündert, weil Haiti nicht über ausreichend Polizisten verfügt.

Kein Katastrophenschutz und keine Nothilfepläne

"Der Karibikstaat war bereits vor dem Erdbeben ein sehr armes Land," sagt Bärbel Kofler (SPD), Mitglied im Bundestagsausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, "die Häuser und Straßen waren baufällig und sanierungsbedürftig, daher hat das Beben hier besonders viel Schaden anrichten können und die ohnehin schlechte Infrastruktur brach ganz zusammen."

Auf dem Index für menschliche Entwicklung (HDI) rangiert Haiti auf den hintersten Plätzen. Von den rund neun Millionen Einwohnern leben über 65 Prozent mit weniger als einem Dollar pro Tag, also in extremer Armut. Rund die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos, ein Fünftel ist chronisch unterernährt. Die Analphabetenquote liegt bei 50 Prozent.

Mit dem Beben brachen nicht nur der Präsidentenpalast, das Parlament und zahlreiche Ministerien zusammen, so dass es im Land selber nicht zu koordinierten Rettungsarbeiten kommen konnte. Auch das Hauptgebäude der Mission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH) wurde zerstört, der Leiter der Mission Hédi Annabi wurde nach vier Tagen tot geborgen.

Weniger als ein Dollar pro Tag

Die Vereinten Nationen hatten sich 2004 zur Entsendung von Blauhelm-Soldaten und Polizisten entschieden, als das Land kurz vor einem Bürgerkrieg stand und eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit in der Region darstellte. Die Mission der UNO lautete, das Land zu stabilisieren, Neuwahlen zu ermöglichen und die Menschenrechte zu schützen. Doch auf das Erdbeben war auch sie nicht vorbereitet, mindestens 47 UN-Mitarbeiter starben, der Verbleib von mehr als fünfhundert weiteren ist unklar.

"Die staatlichen Strukturen, die Blauhelmsoldaten und die Hilfsorganisationen mussten sich erst einmal selber helfen, bevor sie den Menschen helfen konnten," sagt Klaus Runggaldier vom Malteser Hilfsdienst in Port-au-Prince, "die Rahmenbedingungen waren katastrophal." Nach fast zwei Wochen wurden die Rettungsarbeiten nun eingestellt - weite Teile der Hauptstadt Port-au-Prince sind zerstört, das Erdbeben hat mehr als 150.000 Menschenleben gefordert, Hunderttausende sind verletzt, etwa eine Million obdachlos.

Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit gefordert

Die Vereinigten Staaten haben die Kontrolle des Flughafens übernommen, um erst einmal Hilfsgüter in das Land zu bekommen. Ohne Zustimmung des Parlamentes konnte den ausländischen Sicherheitskräften jedoch kein Mandat für die Absicherung der Hilfen erteilt werden. Heute findet im kanadischen Montreal eine internationale Geberkonferenz statt, auf der der langfristige Wiederaufbau des Landes besprochen werden soll. "Ich erwarte von unserer Regierung, insbesondere von Bundesminister Niebel, dass ein guter Übergang aus der Nothilfe hin zu einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit gesucht wird", sagt Bärbel Kofler, "zukünftig wird der Aufbau neuer politischer und administrativer Strukturen wichtig sein."

Das Hauptproblem Haitis liegt in dem instabilen politischen System und der destruktiven politischen Kultur. Vor fünf Jahren musste Präsident Jean-Bertrand Aristide das Land verlassen, weil auch seine einst mit großer Hoffnung begonnene Regierung sich in Misswirtschaft und Korruption verfing und schließlich auf Wahlmanipulationen und gewaltbereite Banden zurückgriff, die Kritiker und Opposition zum Schweigen bringen sollten. Die Vereinten Nationen mussten eingreifen, als sich eine Rebellenbewegung außerhalb der Hauptstadt formierte und das Land in bürgerkriegsartige Zustände geriet. Die Blauhelme konnten Haiti kurzfristig stabilisieren, 2006 wurde René Préval bei freien und fairen Wahlen zum Staatsoberhaupt gewählt.

Doch auch unter dem neuen Präsidenten wechselten schon vier Mal die Ministerpräsidenten, das Verhältnis zum Parlament ist angespannt. Oft konnten Hilfsgelder nicht abgerufen werden, weil es keine Regierung gab oder kein Parlament. "Die politischen Parteien sind arg zerstritten," sagt Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik, "viele haitianische Politiker denken lieber darüber nach, wie sie dem Gegner schaden, als wie sie dem Land nützen können.

Haiti braucht politischen Neuanfang

Genau vierundzwanzig Stunden vor dem Erdbeben stürzte das Land in eine erneute Verfassungskrise. Denn eigentlich sollte die 48. Legislaturperiode am 11. Januar auslaufen. Weil Präsident Préval jedoch noch immer keinen Termin für Neuwahlen angekündigt hatte, verlängerten die Abgeordneten eigenhändig ihr Mandat. Ob dies vom Präsidenten anerkannt wird und verfassungsgemäß ist, bleibt unklar. So verließen die Volksvertreter die Sitzung ohne zu wissen, wie ihr Status ist, ob ihnen noch die Gehälter gezahlt werden oder ob sie noch ihre Büros nutzen können. Vierundzwanzig Stunden später bebte die Erde. Jetzt herrscht erst einmal der Notstand.

"Die deutsche Entwicklungspolitik sollte beim Aufbau neuer institutioneller Strukturen ansetzen, es gilt die politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit des Landes aufzubauen," sagt Bärbel Kofler (SPD), "jetzt, wo die erste Not überwunden ist, wird ein politischer Neubeginn nötig sein."

Haiti hat schon viele Chancen vertan. Mehrfach intervenierten die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinten Nationen, mehrfach riefen haitianische Politiker zu Versöhnungskonferenzen und die internationale Gemeinschaft versprach neue, umfangreichere Hilfe. Doch niemals zuvor lag der Karibikstaat so am Boden wie jetzt, nie zuvor war die Welt so erschüttert von seinem Elend. "Die Aufmerksamkeit der Medien und das erneute Engagement der benachbarten Supermacht USA könnten gemeinsam mit den Haitianern die Wende bringen," sagt Günther Maihold. "Die internationale Gemeinschaft sollte ein gemeinsames Konzept für die Begleitung und den Wiederaufbau von Haiti suchen," sagt Bärbel Kofler, "Eigenverantwortung und politische Unabhängigkeit müssen gefördert werden und gleichzeitig die Geberländer sinnvoll miteinander kooperieren."

Die politischen Parteien müssen ihre Eigeninteressen überwinden und sich auf ein nationales Projekt verständigen. "Im Moment sind die Menschen auf Haiti noch mit der Schadensbehebung beschäftigt und viele trauern um ihre Angehörigen," sagt Mario Laroche, Exil-Haitianer in Gaggenau, "aber wir müssen uns den fundamentalen Fragen unserer Demokratie, der Gerechtigkeit und der Sicherheit unserer Menschen stellen."

Im November läuft die Amtszeit Präsident Prévals aus. Vor der Katastrophe hat eine parteiübergreifende Kommission an einer Reform der Verfassung gearbeitet, um die Machtverteilung zwischen Parlament und Präsident besser zu regeln und die Spuren der alten Diktaturen zu entfernen. Die internationale Gemeinschaft muss auf eine Reform des politischen Systems Haitis drängen, die die Rechte des Parlamentes stärkt und die Rechenschaftspflicht gegenüber der Bevölkerung erhöht. Nur so wird das Land seine Instabilität und sein Elend in den Griff bekommen und auch vor auf Erdbeben-Katastrophen besser geschützt sein.


Autor*in
Jérôme Cholet

arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Afrika, Lateinamerika und Naher Osten.

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