Der größte Saal der Heinrich-Böll-Stiftung platzt aus allen Nähten. Wer glaubt, hier fände eine verspätete Wahlparty nach dem Erfolg der Grünen in Baden-Württemberg statt, liegt falsch. Der Vorsitzende der Bundesfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Jürgen Trittin, sitzt zwar mit auf dem Podium, aber den größten Applaus bekommt ein anderer: Tim Jackson. Der Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität in Surrey entwirft mit seinem Buch ein Konzept für nachhaltigen Wohlstand innerhalb der ökologischen Grenzen unseres Planeten.
Das Wachstumsdilemma
Vor zwei Jahren wäre ein wachstumskritisches Buch dieser Art nicht möglich gewesen, erklärt Jackson. Die Forderung nach einem Wohlstand ohne Wachstum sei immer mit der Forderung verbunden worden, wieder in Höhlen zu leben. Die erschütternden Folgen der Weltfinanzkrise verdeutlichten jedoch die Grenzen des Wachstums und führten Jackson zufolge dazu, dass wachstumsunabhängige Perspektiven für globalen Wohlstand gefragter seien denn je.
Deshalb geht er in seinem Buch der Frage nach, warum Wirtschaftswachstum auch für die hoch entwickelten Nationen immer noch von so großer Bedeutung ist; wieso wir uns zum Wachstum geradezu gezwungen fühlen? Jackson erklärt einen Teil dieses Wachstumszwanges mit dem Konsumverhalten der Menschen. Er glaubt nicht, dass wir Menschen von "Natur aus Käufer und Kunden" sind, sondern, dass wir die materiellen Dinge, die wir konsumieren, mit "gesellschaftlicher und psychologischer Bedeutung aufladen". Demnach erhoffen wir uns über den Konsum Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe.
In der Tat fallen dem Leser etliche Beispiele für derartiges Konsumverhalten ein: vom Studenten-MacBook bis zur Jack-Wolfskin-Jacke, die eigentlich für härteste Witterungsbedingungen bestimmt, heute vor allem in Großstädten getragen wird.
Der innere Teufel
Die Wachstumsdebatte schließt das alltägliche Konsumverhalten ein. Der Autor selbst bekennt sich vor dem Publikum zu seinem "devil inside", seinem inneren Teufel des Konsums, in dem er auf seine italienischen Luxuswanderschuhe verweist.
Es bleibt die unangenehme Frage: Warum definieren wir uns innerhalb unserer Gesellschaft größtenteils über materielle Dinge? Laut Jackson sei in den letzten 20 Jahren der Wirtschaftsliberalisierung nur ein sehr kleiner Teil des menschlichen Charakters "privilegiert" worden. Ausgehend vom rein eigennützig handelnden Menschen haben wir unsere sozialen Eigenschaften vergessen, sagt Jackson. Der Leser wird deshalb daran erinnert, dass Wohlstand mehr ist als die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse. Er ist vielmehr "tief in der Lebensqualität, der Gesundheit und dem Glück unserer Familien verankert", aber auch in der Fähigkeit "voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen", so Jackson.
Im Buch wird das Dilemma des Zwangs zu permanentem Wachstum in einer endlichen Welt verdeutlicht. Darin fordert der Autor jeden, der die Kritik am unendlichen Wachstum zurückweist, auf zu erklären "wie eine ständig wachsende Wirtschaft in ein endliches Ökosystem passen soll".
Die Rolle der Politik
Der Wandel zu einem Wohlstand ohne Wachstum müsse aber nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von der Politik getragen werden. Jackson räumt ein, dass Politik, die Wachstum bremsen will, viel Mut und Weitsicht voraussetzt. Trittin kann dass nur bestätigen und erinnert außerdem, dass man dazu viel Geld in die Hand nehmen müsse.
Trittin empfiehlt dem Publikum: "Lesen sie dieses Buch". Er sieht darin ein Plädoyer für ein Internationales Klimaregime, dass dem Wachstum z.B. über einen weltweiten Emissionshandel klare Grenzen setzt. Jackson und Trittin sind sich einig, dass der Klimawandel rein technologisch zu bewältigen sei, wenn mit der ständigen Effizienzsteigerung nicht auch immer erhöhter Konsum verbunden ist. Z. B. würde die ständig steigende Effizienz von Flugzeugen "aufgefressen", weil die Flugzeuge im gleichen Maße öfter benutzt würden, erklärt Trittin.
Ganz ohne Wachstum geht es nicht
Doch Wachstum ist notwendig. Die ärmsten Länder dieser Welt brauchen ein Wachstum, der sie befähigt, die Grundbedürfnisse ihre Bevölkerung zu stillen, schreibt Jackson in seinem Buch. So ist es für ihn unhaltbar, dass eine Milliarde Menschen auf unserem Planeten von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen.
Auf das notwendige Wachstum bezogen, erinnert Trittin daran, dass beispielsweise Investitionen in Erneuerbare Energien zweifellos wirtschaftliches Wachstum nach sich ziehen würden. Zudem, sagt er, sei der geforderte gesellschaftliche Wandel in Deutschland viel zu sehr von der sozialen Schicht abhängig.
Nach der Finanz-, Klima- und Energiekrise kommt Jacksons Buch genau zur richtigen Zeit. Er hinterfragt grundlegend eines der fundamentalsten Paradigmen unsere Gesellschaft: das Wachstum. Jedem Leser ist Jacksons Mut zu wünschen, den eigenen Konsum zu hinterfragen.
Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum
Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt
Aus dem Englischen von Eva Leipprand
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung
oekom verlag, München
April 2011, 240 Seiten, 22,95 EUR
ISBN-13: 978-3-86581-245-2