Der "Enthusiasmus" des ersten arabischen Aufstandes in Tunesien scheint sich nicht nur auf die Nachbarländer übertragen zu haben. Die erste Folge der Juso-Veranstaltung "Politischer Anstoß" im Jahr 2011 war so gut besucht wie lange nicht mehr - Thema: " Revolution in Nahost: Demokratisiert sich die arabische Welt selbst?". Eingeladen waren der Ägypten-Experte Björn Bentlage, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft der Uni Halle, und für den politiktheoretischen Rahmen Dr. Axel Rüdiger, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenznetzwerk "Aufklärung - Religion - Wissen" an der Uni Halle. Organisatoren waren die Jusos in der SPD Halle (Saale), die Juso-Hochschulgruppe Halle und der Landesarbeitskreis Gleichstellung und Zukunft der Jusos Sachsen-Anhalt.
Aktueller Stand: Umbrüche in der arabischen Welt
Ulrich Stockmann, bewährt versierter Moderator des Politischen Anstoßes, berichtete einleitend schlaglichtartig den aktuellen Stand in den betreffenden Ländern der arabischen Welt: Tunesien, Ägypten, Algerien, Jemen, Jordanien, Syrien. Mit den Fragen, die Europa und "den Westen" seit Beginn der Umwälzungen beschäftigen, übergab er das Wort an Björn Bentlage: Werden die Islamisten die Macht ergreifen? Was bedeutet ein Wandel für die europäische Sicherheits- und Migrationspolitik? Bentlages Fokus lag auf Ägypten. Systematisch und anschaulich beschrieb er den "Fahrplan", den die ägyptische Interimsmacht, bestehend aus ranghohen Militärs, bezogen auf die verfassungsrechtliche Entwicklung des Landes aufgestellt hat. Läuft alles nach diesem Plan, wird Ägypten nach Ablauf von zwei Jahren über eine neue Verfassung verfügen, auf deren Grundlage dann bereits ein Parlament und ein Präsident gewählt wurden.
Die Lage in Ägypten
Die gegenwärtige Parteienlandschaft sei, so Islamwissenschaftler Bentlage, durch eine Vielzahl an Gruppierungen gekennzeichnet, von denen aber nur die vor dem Sturz von Mubarak bereits etablierten Parteien einen hohen Organisationsgrad aufweisen. Derzeit finde Meinungsbildung in der Öffentlichkeit über die unzähligen Medien statt. Anhand der Bestimmung der Mitglieder, die über die neue Verfassung für das Land beraten sollen, verdeutlicht Bentlage, wie das funktionieren kann. Zu Beginn einer politischen Frage - hier: Wer darf über die Grundlagen des neuen ägyptischen Staates mitentscheiden? - tauchen verschiedene Optionen, Namen, in den Tageszeitungen auf. Dort und anderswo werden sie verhandelt. Einige Namen erscheinen nur einmal, andere mehrmals und die, die am Ende übrig bleiben, werden gleichsam als der gemeinsame Nenner der Ägypterinnen und Ägypter wahrgenommen. Eine funktionierende Mediendemokratie? Man wird sehen.
Auf Fragen des Publikums zur Verlässlichkeit des Militärs in Bezug auf die angekündigte Machtübertragung reagierte Bentlage optimistisch, aber verhalten: "Ich hätte nie gedacht, dass diese Revolution kommen würde." Deswegen halte er sich mit Prognosen lieber zurück.
Politisches Wissen über Revolutionen und Umbrüche
Axel Rüdiger konzentrierte sich auf die theoretisch-systematischen Zusammenhänge der "arabischen Revolution" und vermied ebenfalls Prognosen. Zwei Prototypen von Revolutionen nannte er - die Französische Revolution und die Systemumbrüche von 1989. Revolution wollte er dabei verstanden wissen als einen durch ein Volk herbeigerufenen bzw. -gekämpften Wechsel einer Verfassung. Insofern könne man bisher höchstens im Falle Ägyptens von einer Revolution sprechen.
Als Erklärung für die schnelle Ausbreitung der Umbruchstimmung - von Tunesien über Nordafrika und die arabische Halbinsel - führte Rüdiger Immanuel Kants Idee des "Enthusiasmus" an. Jede, auch nur lokale Revolution habe globale Auswirkungen, weil sie in jedem Menschen, wenn er davon hört, ein Grundgefühl etwa von Freiheit anspreche, dem dieser Mensch wiederum auf seine Weise Ausdruck verleihen kann. So gesehen könnten die Rufe der arabischen Welt nach Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie auch die Europäer aufrütteln und zur Reflektion über den Stand der Demokratie in ihren eigenen Ländern anregen.
Interessiertes Publikum stellt viele Fragen
Viele Fragen konntenan diesem Abend geklärt, Ideen gesammelt und ausgetauscht werden. Die Angst etwa, die diplomatischen Beziehungen zwischen Ägypten und Israel könnten durch die politischen Neuerungen geschädigt werden, relativierte Bentlage. Es gehe den Ägyptern in erster Linie um die Entwicklung ihres Staates. In den Parteiprogrammen und Äußerungen von Politikern komme in der Regel eine Kontinuität in dieser Frage zum Ausdruck.
Die Bedeutung sozialer Netzwerke wie Twitter oder Facebook für das Aufkommen und dynamische Entwicklung der Umbrüche hielten beide Wissenschaftler auf Nachfrage aus dem Publikum für überbewertet. Natürlich seien Medien wichtig, wenn es darum gehe, öffentliche Meinungen und Proteste zu organisieren. Das geschah für den Großteil der Ägypter aber mithilfe der Printmedien - und per Mobiltelefon. PCs und Internet seien, so Bentlage, hauptsächlich in der recht dünnen Mittelschicht der ägyptischen Gesellschaft zu finden.
Wie auch immer die Mobilisierung stattfand, nicht zu unterschätzen ist wohl die Kraft des Kant'schen Enthusiasmus für die Grenzüberschreitung der revolutionären Bewegung in Nordafrika. Sie hat auch dazu geführt, dass die Veranstaltung im entfernten Deutschland eine halbe Stunde überzogen wurde.
Der "Politische Anstoß" wurde vom langjährigen Europaparlamentarier Ulrich Stockmann ins Leben gerufen. In regelmäßigen Abständen werden in den Uni-Städten Magdeburg und Halle in lockerer Runde kontroverse Themen diskutiert.