Abstimmung über Vorsitz: Warum die SPÖ eine Beitrittswelle erlebt
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Wenn niemand mehr in der Pilotenposition sitzt, dann wird es manchmal richtig spannend. Die österreichische Sozialdemokratie ist bekanntlich erst in eine Führungskrise geschlittert und dann in eine Mitgliederbefragung getaumelt. Der lange schwelende Führungskonflikt zwischen Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und ihrem Gegenspieler vom rechten Parteiflügel, Hans-Peter Doskozil, ist eskaliert, und Doskozil hat zum Zwecke der Entscheidung eine Mitgliederbefragung durchgesetzt. Beide hatten insgeheim die Idee, die Entscheidung auf ein Duell zu beschränken. Doch es kam ganz anders.
9.000 Neumitglieder in 48 Stunden
Mitte vergangener Woche warf der erste links-progressive Kandidat seinen Hut in den Ring, der 40-jährige Wiener Ökonom Niki Kowall. Zwei Tage darauf meldete der erfolgreiche Bürgermeister der Stadt Traiskirchen, Andreas Babler, seine Kandidatur an. Und es geschah etwas, das wohl niemand so erwartet hatte, als die Parteiführung kundmachte, dass alle SPÖ-Mitglieder mit Stichtag vergangenem Freitag bei der Wahl mitmachen könnten. Es entstand eine regelrechte Bürger*innenbewegung.
In kaum mehr als 48 Stunden traten 9000 Menschen der Sozialdemokratie bei, vornehmlich junge Leute, ganze Familien, die Milieus politisch wacher Zeitgenoss*innen, nicht nur in den Städten, sondern auch in den kleinen Gemeinden und Dörfern. Nur um die Relationen zu begreifen: Damit sind innerhalb von rund zwei Tagen mehr Menschen der SPÖ beigetreten, als beispielsweise die Grünen in Österreich insgesamt Parteimitglieder haben. Die SPÖ selbst hatte vor der Beitrittswelle 138.000 Mitglieder. Die Neubeitritte reichen von prominenten Journalist*innen über junge linke Studierende, frühere grüne Nationalratsabgeordnete über ganz normale Arbeitnehmer*innen bis zum preisgekrönten Schriftsteller Robert Menasse, der kundtat, er möchte wieder einmal stolz auf jene Partei sein, die sein Urgroßvater als Delegierter beim Gründungsparteitag mit aus der Taufe gehoben hatte.
Beitrittsparty vor der SPÖ-Zentrale
An sich ist die Sache nicht so völlig überraschend, denn es gibt natürlich überall diese große Menge „geheimer Parteianhänger“, also Sympathisanten ohne Parteibuch, Sozialist*innen und Sozialliberale, die sich eine energetische Partei zurück wünschen und unglücklich sind mit einer behäbigen Apparatschikpartei. Etwas überraschend ist allerdings, dass sie so wild entschlossen einen Beitrittsantrag ausfüllten und sich faktisch über Nacht eine regelrechte Aufbruchstimmung verbreitete. Die meisten füllten ihr Beitrittsansuchen online aus, aber es gab auch richtige Beitrittspartys, etwa vor der SPÖ-Zentrale in der Wiener Innenstadt, bei der die Schlange etwa so lang war wie bei vielversprechenden Club-Nächten im Berliner Berghain.
Die Ausgangslage für die Mitgliederbefragung ist jetzt einigermaßen unvorhersehbar. Einerseits werden die Wahlberechtigten mit ihrem „Herz“ abstimmen, andererseits ist der ganze Prozess überschattet von der Gefahr einer Rechts-Ultrarechts-Mehrheit bei den nächsten Nationalratswahlen, weshalb sich viele die Frage stellen werden, welche potentielle Vorsitzenden-Person am ehesten neue Wählersegmente erschließen könnte. Und zu allem dazu kommt der Überdruss an den bisherigen Akteuren, also einerseits dem Parteiestablishment, andererseits an dem Herausforderer aus dem Burgenland, der mit seinen stetigen Querschüssen die Hütte in Brand gesetzt hatte.
Ein Bürgermeister als Mit-Favorit
Aus diesem Grund ist in vielen Parteigruppierungen, in den Städten, aber auch in den kleinen Gemeinden und Dörfern die Stimmung „weder Doskozil noch Rendi-Wagner“. Darum ist Andreas Babler, der Bürgermeister von Traiskirchen, deutlich mehr als ein Außenseiterkandidat. Er ist mittlerweile ein Mit-Favorit.
Babler, 50, gilt seit Jahren schon als eine Art grundsatztreuer, aber gemäßigter Parteirebell. Als er das Bürgermeisteramt in seiner Stadt übernahm, hatte die SPÖ in Traiskirchen 69 Prozent der Stimmen – er steigerte den Anteil noch einmal auf phänomenale 73 Prozent, und verlor auch fünf Jahre später nur unwesentlich auf knapp 72 Prozent. Politisch gilt er als wichtige Figur des linken Parteiflügels. Aber das ist nicht die Erklärung für seinen Erfolg. Er ist ein geerdeter Typ, war früher Staplerfahrer in einer Mineralwasserfabrik, stieg im zweiten Bildungsweg auf. Er redet nicht wie die Politelite, sondern positioniert sich glaubwürdig als Sprecher der ganz normalen, einfachen Leute, die sich ansonsten heute nur selten von der Sozialdemokratie repräsentiert sehen und anderswo aus Protest die extreme Rechte wählen.
Viele sind der Überzeugung, ein Repräsentant einer „Kleine-Leute-SPÖ“ wie Babler könne der rechtsextremen FPÖ signifikant Paroli bieten, weil er ein glaubwürdigerer Herausforderer des „etablierten Systems“ ist als die rechten Populisten. Und als zugleich hemdsärmliger als auch humanistisch gesinnter Politiker wirkt er sogar in christdemokratische Milieus, die mit dem Rechtskurs ihrer Partei unzufrieden sind. Bürgermeister*innen und Vizebürgermeister*innen aus Kleinstädten und Gemeinden im Salzkammergut, Parteivorsitzende aus mittelgroßen Städten in Oberösterreich und Salzburg, Bürgermeister*innen aus der Steiermark bekunden, dass die Mehrheit ihrer Funktionär*innen und Mitglieder Babler wählen würden. Von den neu beigetretenen Mitgliedern hat der Herausforderer aus Traiskirchen wohl die erdrückende Mehrheit sowieso auf seiner Seite, nachdem Niki Kowall zu seinen Gunsten schon zurück gezogen hat.
Das Rennen um den Parteivorsitz scheint offen
Das Rennen scheint, betrachtet man die Sache nüchtern, nun völlig offen. Pamela Rendi-Wagner, die Parteivorsitzende, hat sicher noch Sympathisanten und echte Anhängerinnen, aber viele hadern einfach auch mit ihrer Performance der vergangenen Jahre. Doskozil wiederum ist nur bei jenen wirklich beliebt, die einen Rechtskurs a la Dänemark bevorzugen würden, und selbst jene, die seine politische Linie unterstützen, zweifeln an seiner charakterlichen Eignung. Es ist gut möglich, dass auch alle drei realistischen Kandidaten ziemlich gleichauf im Bereich von 23 bis 28 Prozent Stimmanteil liegen werden. Bis jetzt ist nicht einmal völlig klar, was dann geschehen sollte. Die Parteiführung, die völlig planlos in das Verfahren gestolpert war, hat bis jetzt offenbar die Absicht, den/die dann relativ Stärkste*n einem Parteitag als Vorsitzende*n vorzuschlagen.
Höchstwahrscheinlich wird dieses Planspiel, wie so manches der vergangenen Wochen, bald Makulatur sein. Eine Stichwahl durch alle Mitglieder wäre an sich die vernünftigste Vorgangsweise.