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40 Jahre Schengen: Warum ein freier Grenzverkehr nicht selbstständlich ist

Vor 40 Jahren wurde das „Schengener Übereinkommen“ unterzeichnet. Grenzkontrollen sollten damit der Vergangenheit angehören. Nun kehren sie zurück – mit Folgen auch für die Grenzregion zwischen Kleve und Nijmegen. Ein deutsch-niederländisches Gespräch

von Kai Doering · 13. Juni 2025
Schild an einer Straße zur Ankündigung der niederländischen Grenze in einem Kilometer Entfernung

Viele Jahre gab es die Grenzen zwischen den Niederlanden und Deutschland nur auf dem Papier, Schengen sei Dank. Kehren nun die Kontrollen zurück?

Als am 14. Juni 1985 Staatssekretäre aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Deutschland im Örtchen Schengen in Luxemburg zusammenkamen, um auf einem Ausflugsdampfer ein gemeinsames Abkommen zu unterzeichnen, konnte sich niemand vorstellen, was einmal daraus werden würde. Das „Schengener Übereinkommen“ sorgte unter anderem dafür, dass Grenzkontrollen zwischen den teilnehmenden Staaten de facto entfielen. 1995 trat es in Kraft. 29 Staaten gehören mittlerweile zum „Schengen-Raum“.

Grenzkontrollen kehren zurück

Doch in den vergangenen Jahren sind die Grenzkontrollen zurückgekommen, nicht zuletzt von deutscher Seite. Josef Gietemann, 64, und Willem van het Hekke, 72, leben in der Grenzregion zwischen Kleve in Deutschland und Nijmegen in den Niederlanden. Die beiden Sozialdemokraten setzen sich seit vielen Jahren für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit ein. Die SPD und ihre niederländische Schwesterpartei PvdA aus der Region küren zudem den „Grenzland-Europäer des Jahres“.

Am 16. Juni 1985 wurde das „Schengener Übereinkommen“ über den „schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ unterzeichnet. Was verbinden Sie mit dem Begriff „Schengen“ heute?

Willem van het Hekke: Schengen bedeutet das Verschwinden der Binnengrenzen in Europa. Das ist die Bedeutung im Kopf. In meinem Herz ist Schengen ein Stück gelebte Freiheit; die Freiheit, frei reisen zu können. So ist das Abkommen auch ein wichtiger Schritt geworden für das Zusammenwachsen Europas. Davon abgesehen ist Schengen auch ein sehr schönes Dorf.

Josef Gietemann: Willem und ich sind ja beide in einem Alter, dass wir noch die Zeit vor Schengen erlebt haben. Wenn man weiß, dass der Schlagbaum an der Grenze früher um zehn Uhr abends geschlossen und erst am nächsten Morgen wieder geöffnet wurde, weiß man den Gewinn des Schengener Abkommens deutlich mehr zu schätzen. Als dann zum 1. Januar 2002 der Euro eingeführt wurde und auch das Umtauschen des Geldes wegfiel, fühlte es sich gar nicht mehr an, als würde man eine Grenze überqueren. Die Region zwischen Kleve und Nijmegen ist durch diese beiden Entscheidungen sehr eng zusammengewachsen.

Josef
Gietemann

Die Grenzkontrollen sind Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten in den Niederlanden.

Unterzeichnet wurde das Schengener Übereinkommen 1985. Vollständig in Kraft getreten ist es 1995. Wie hat sich die Region seitdem verändert?

Josef Gietemann: Massiv. Es gibt eine Reihe von Firmen, die Büros sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland haben. Die Beschäftigten arbeiten auf beiden Seiten der Grenze. Auch der Einzelhandel hat stark profitiert. Das ist besonders aufgefallen, als jetzt von deutscher Seite wieder Grenzkontrollen eingeführt worden sind. In Kleve gibt es Geschäfte, insbesondere Cafés und Restaurants, deren Umsatz um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen ist, weil am Wochenende kaum noch Niederländer gekommen sind. Vor allem gehen auf diese Weise aber persönliche Kontakte verloren. Die Grenzkontrollen sind aber auch Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten in den Niederlanden.

Inwiefern?

Josef Gietemann: Nach dem Bruch der niederländischen Regierung haben einige Niederländer auf eigene Faust Fahrzeugkontrollen an der deutschen Grenze organisiert, ausgestattet mit Warnwesten und Leuchtstäben. Von Geert Wilders haben sie dafür viel Lob bekommen. Das ist eine höchst gefährliche Entwicklung, finde ich. Selbst in der Corona-Zeit war hier die Grenze immer offen und das war auch richtig so, denn dass Grenzkontrollen Probleme lösen, ist eine Erzählung der Konservativen und der Rechten, die aber mit der Wahrheit nichts zu tun hat.

Willem van het Hekke: Seit am 3. Juni die Regierung in den Niederlanden auseinandergebrochen ist, hat sich die Situation deutlich verschärft. Die niederländische Regierung hatte ja bereits Grenzkontrollen eingeführt, weil die PVV von Geert Wilders darauf gedrängt hat. Ein Argument war dabei: Wenn Deutschland das macht, warum machen wir das nicht auch? Deutschland ist häufig ein Vorbild für die Niederlande, im Guten wie auch im Schlechten. Die Zahlen zeigen ja, dass die Grenzkontrollen reine Symbolpolitik sind. Letztlich fühlen sich bestimmte Gruppen aber dadurch legitimiert, selbst aktiv zu werden. Das halte ich für sehr gefährlich.

Die Gesprächspartner

Josef Gietemann (l.) war zehn Jahre lang Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Kleve und viele Jahre Mitglied im Stadtrat. Willem van het Hekke ist seit 1973 Mitglied der niederländischen PvdA und seit mehr als zehn Jahren auch der SPD. Gemeinsam setzen sie sich seit vielen Jahren für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Kleve und Kranenburg auf deutscher mit Berg en Dal und Nimwegen auf niederländischer Seite ein.

Josef Gietemann und Willem van het Hekke im Garten vor einem Busch

Seit Mai 2025 gelten an allen deutschen Grenzen verschärfte Einreisekontrollen. Wie sind die Kontrollen insgesamt in Ihrer Region aufgenommen worden?

Willem van het Hekke: Natürlich ärgert das die Menschen. Sie wollen nach Kleve fahren und einkaufen und tanken. Das ist jetzt alles deutlich schwieriger geworden.

Sie haben beide die Vor-Schengen-Zeit erlebt. Woran erinnern Sie sich besonders?

Willem van het Hekke: Ich bin damals öfter mit meinem Vater und meiner Mutter nach Deutschland gefahren. An der Grenze musste jedes Auto anhalten und wurde kontrolliert. Ich erinnere mich gut, wie erleichtert ich war, wenn wir die Kontrolle hinter uns hatten und weiterfahren konnten. Das war schon immer sehr aufregend und die Grenzbeamten waren auch etwas einschüchternd. Damals lag der Krieg ja auch erst einige Jahre zurück und das Bild, dass die Deutschen schlecht sind und viel Leid über uns gebracht haben, war noch sehr präsent. In der heutigen Generation gibt es das alles zum Glück nicht mehr.

Josef Gietemann: Das stimmt. Unser Sohn ist 28 und fährt ganz selbstverständlich am Wochenende nach Nijmegen, um dort auszugehen. Auf die Idee wären wir vor 40 Jahren nicht gekommen.

Willem van
het Hekke

Ich bin mir recht sicher, dass Europa auseinander fallen wird, wenn wir keine gemeinsame Lösung hinbekommen.

Für jüngere Menschen ist die Freizügigkeit, die Schengen garantiert, selbstverständlich. Wie kann ihnen der Wert dennoch vermittelt werden?

Josef Gietemann: Es gibt bereits einige Projekte, die auch im Rahmen der „Euregio Rhein-Waal“ bei uns im Gebiet gefördert werden. Hier könnte man schon noch stärker vermitteln, wie die Situation früher war und wie einfach vieles heute geworden ist, etwa über Ausstellungen. Am wichtigsten ist, dass die jungen Leute erfahren, dass ein freier Grenzverkehr keine Selbstverständlichkeit ist. Leider vergessen die Menschen sehr schnell, welche Vorteile Freiheit und auch die Demokratie für sie bringen.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass durch dieses Vergessen Errungenschaften wie die von Schengen wieder rückgängig gemacht werden könnten?

Willem van het Hekke: Die Sorge ist schon da. Im vergangenen Jahr haben sich die EU-Staaten ja auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geeinigt. Das beinhaltet auch eine Sicherung der gemeinsamen Außengrenzen. Wenn das nicht gelingt, wird den Ländern nichts anderes übrigbleiben, als die eigenen Grenzen zu sichern, wie es Deutschland jetzt schon in einem gewissen Umfang macht. Vor dieser Entscheidung steht Europa jetzt. Und ich bin mir recht sicher, dass Europa auseinanderfallen wird, wenn wir keine gemeinsame Lösung hinbekommen.

Josef Gietemann: Es ist schon traurig, wenn man zurückblickt und sieht, was in Europa schon alles erreicht worden ist und wo wir jetzt stehen. Als das Schengener Übereinkommen unterzeichnet wurde, war der Geist in Europa ein anderer als heute. Trotzdem halte ich es für einen Fehler, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken. Stattdessen sollten wir immer versuchen zu vermitteln, wie wichtig Zusammenarbeit in Europa ist. Mit unseren Initiativen versuchen wir einen kleinen Baustein dafür zu liefern. Vor 40 Jahren war ein gemeinsamer Schengen-Raum eine Vision, die wahr geworden ist. Jetzt geht es darum, wachsam zu sein, dass die Entwicklung nicht in die andere Richtung geht. Willem und ich werden jedenfalls jeden Tag weiter daran arbeiten, dass das nicht passiert.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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