Inland

„Wir wissen zu wenig über Gauck“

von Kai Doering · 16. März 2012

Am Sonntag wird Joachim Gauck der 11. Bundespräsident. Der Publizist Albrecht Müller hält ihn für den falschen. Mit vorwärts.de sprach er über sein heute erscheinendes Buch und sagt, warum die SPD dem neuen Präsidenten Nachhilfe erteilen muss.

Vorwärts.de: Würden Sie Joachim Gauck am Sonntag zum Bundespräsidenten wählen?

Albrecht Müller: Nein, als Sozialdemokrat würde ich Joachim Gauck nicht wählen, weil er keine sozialdemokratischen Werte vertritt. Seine Wahl wird der SPD leider nicht gut tun.

Warum nicht?

Sehen Sie sich nur die Vorstellung Gaucks als gemeinsamem Kandidaten von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen an. Angela Merkel präsentiert Gauck. Seine Aufmerksamkeit gilt ihr. Er ist – anders als öffentlich wahrgenommen – ihr Kandidat und nicht der von SPD und Grünen. Das gilt auch inhaltlich. Was Joachim Gauck z.B. über die Entspannungspolitik sagt und schreibt, ist eine Beleidigung aller dafür engagierten Sozialdemokraten: Willy Brandt, Herbert Wehner, Egon Bahr und viele mehr. Gauck wirft ihnen Appeasement-Politik vor. Gauck weiß auch nicht um die Bedeutung der sozialen Sicherheit für die Menschen. Und seine Äußerungen zu Militäreinsätzen vom Kosovo bis Libyen kann man nur als leichtfertig bezeichnen. Dieser Präsident wird wohl eher zu Kriegseinsätzen raten als dagegen zu sprechen.

In Ihrem Buch „Der falsche Präsident“ werfen Sie Joachim Gauck auch vor, dass ihm ein Verständnis für den Sozialstaat fremd ist. Ist Gauck ein Neoliberaler?

Aus meiner Sicht ja. Joachim Gauck verharmlost die Finanzkrise und rechtfertigt das Treiben auch dieser „Märkte“. Die Bundesregierung hat in der Finanzkrise so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann, sie hat z.B. die Spekulation um Griechenland immer wieder angeheizt. Gauck aber stellt sich hin und sagt, es sei alles in Ordnung. Auch zur Privatisierungswelle der vergangenen Jahre geht der Kandidat nicht auf Distanz, obwohl mittlerweile fast überall angekommen ist, dass dies eine teure Mode war.

Wird er die Menschen nach den Erfahrungen mit Christian Wulff wieder zusammenführen?

Das sehe ich nicht. Joachim Gauck spaltet die Gesellschaft. Das ist sichtbar bei seinen Äußerungen zu Thilo Sarrazin. Politisch wache Menschen müssen empört sein, wenn Gauck ihm Mut bescheinigt. Es ist nicht mutig, wenn jemand tief sitzende Vorurteile nutzt. Gauck spaltet aber auch im sozialen Bereich. Wenn er sich hinstellt und sagt, es sei alles gut im Land, dann grenzt er jene Menschen aus, die wirtschaftliche Sorgen haben, denen es nicht gut geht, etwa weil sie seit Jahren Hartz IV beziehen oder sich von Praktikum zu Praktikum hangeln müssen. Joachim Gauck polemisiert gegen die so genannten Besitzstandswahrer. Damit sind nach seiner Lesart u.a. Menschen gemeint, die eine Rente beziehen, nachdem sie jahrzehntelang Beiträge bezahlt haben. Diesen Besitzstand wahren sie mit Recht! Und gerade wir Sozialdemokraten sind aufgerufen, sie dabei zu schützen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Joachim Gauck verdanke seine Nominierung auch einem Niedergang der Demokratie. Wie meinen Sie das?

Innerhalb der Parteien, die Joachim Gauck vorgeschlagen haben, gab es keinerlei Willensbildung von unten. Gauck ist vielmehr ein Kandidat, der von den Medien gemacht wurde. Es ist ja mittlerweile bekannt, dass „Welt“-Herausgeber Thomas Schmid Gauck dem Grünen-Vorsitzenden Jürgen Trittin als Kandidaten vorgeschlagen hat. Die Idee ist dann 2010 bei Sigmar Gabriel gelandet und SPD und Grüne haben Gauck als ihren Kandidaten vorgestellt. Allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass sie sich davon vor allem versprochen haben, die Bundeskanzlerin in Bedrängnis zu bringen. Sachliche Gründe für Joachim Gauck gab es auch damals nicht. Ein von Springer gemachter Kandidat hat für mich aber nichts mit Demokratie zu tun.

Zwei Drittel der Deutschen stimmen einer Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten dennoch zu. Woran liegt das?

Ich denke, die Menschen wissen viel zu wenig über den Kandidaten. Die große Zustimmung basiert vor allem auf der emotionalen Ebene. Sie ist medial vermittelt. Ich habe dieses Buch auch deshalb geschrieben, damit die Menschen mehr über ihren neuen Präsidenten erfahren. Bis zur Bundespräsidentenwahl im Jahr 2010 hatte auch ich kein genaues Bild von Joachim Gauck, habe dann aber angefangen, mich mit ihm zu beschäftigen – und bin erschrocken.

Stehen uns also fünf oder vielleicht sogar zehn schlimme Jahre bevor oder gibt es noch Hoffnung auf Besserung?

Die Entscheidung für Joachim Gauck ist gefallen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Ich möchte mein Buch auch nicht so verstanden wissen, dass ich die Wahl am kommenden Sonntag beeinflussen möchte – obwohl ich mir wünsche, dass im ersten Wahlgang möglichst viele in der Bundesversammlung demonstrativ mit Nein stimmen, um ein Zeichen zu setzen. Nach der Wahl wäre der neue Bundespräsident gut beraten, sich ein bisschen Volkshochschuleunterricht ins Schloss Bellevue zu holen. Die SPD sollte Joachim Gauck in die Pflicht nehmen, wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen zu lernen und die Situation von 800 000 Leiharbeitnehmern und einigen Millionen Aufstockern und so genannten Unterbeschäftigten kennenzulernen. Wenn er trotz seiner 72 Lebensjahre dazulernt, schreibe ich in fünf Jahren gerne ein Buch mit dem Titel „Der richtige Präsident“.

Albrecht Müller ist Diplom-Volkswirt und Mitherausgeber der „NachDenkSeiten“. Er leitete Willy Brandts Wahlkampf 1972 und die Planungsabteilung unter Brandt und Helmut Schmidt.

Albrecht Müller: Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden, Westend-Verlag 2012, ISBN 978-3-86489-028-4, 5,99 Euro

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare