Inland

„Wir schaffen das“: Bilanz nach fünf Jahren Flüchtlingspolitik

Vor fünf Jahren prägte Bundeskanzerlin Angela Merkel mit der Aussage „Wir schaffen das“ eine neue Flüchtlingspolitik in Deutschland, die Auswirkungen auf ganz Europa hatte. „Geschafft“ haben wir „das“ nicht, sagt Lars Castellucci, migrationspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er versteht Integration als Daueraufgabe.
von Benedikt Dittrich · 31. August 2020
Vor fünf Jahren: Im September 2015 erreichen die ersten von vielen tausenden Geflüchteten Deutschland – und erhielten schon bei der Ankunft Spenden und Unterstützung.
Vor fünf Jahren: Im September 2015 erreichen die ersten von vielen tausenden Geflüchteten Deutschland – und erhielten schon bei der Ankunft Spenden und Unterstützung.

Lars Castellucci, fünf Jahre nachdem die Bundeskanzlerin sagte: „Wir schaffen das“ – haben wir es geschafft?

Ich werde von Bürgerinnen und Bürgern häufig gefragt, wie lange das denn dauern wird mit der Integration: Fünf Jahre oder länger? Meine Antwort ist dann immer: „Integration ist für mich das gute Zusammenleben.“ Das ist eine Daueraufgabe, um die man sich immer kümmern muss, selbst wenn keine Geflüchteten zu uns kommen würden. Insofern haben wir „das“ nicht geschafft. Aber wir haben eine ganze Menge geschafft. Damit meine ich nicht uns als Politiker und Politikerinnen. Die Politik war manchmal sogar nicht hilfreich, wenn wir uns monatelang gestritten haben. Wir haben gemeinsam als Gesellschaft viel erreicht, dürfen aber nicht nachlassen, vor allem auch weil sich an den Problemen um uns herum wenig gebessert hat.

Mit der Aufnahme von besonders Kranken und minderjährigen Geflüchteten aus den griechischen Aufnahmelagern geht es nur langsam voran. Zusätzliche Aufnahmeprogramme werden aber vom Bundesinnenminister Horst Seehofer abgelehnt. Wie kann die SPD-Bundestagsfraktion diese Blockade auflösen?

Ich finde es großartig, dass es in vielen Bundesländern und Kommunen Beschlüsse gibt, helfen zu wollen. Wenn Hilfe angeboten wird, sollte man sie ermöglichen, finde ich. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass die Geflüchteten gezielt verteilt werden – dorthin, wo die Bereitschaft da ist. Damit gestalten wir die Verteilung auch demokratischer. Trotzdem ist es grundsätzlich sinnvoll, dass der Bund die Federführung hat. Hätten wir 2015 beispielsweise erst gefragt, wer bereit zur Aufnahme ist, hätten wir die Geflüchteten gar nicht so schnell aufnehmen können wie es damals nötig war. Jetzt hat sich die Lage bei uns aber beruhigt und alles geht geordnet zu. Deswegen ist jetzt auch die Zeit, gemeinsam an Verbesserungen zu arbeiten und aufeinander zuzugehen, beispielsweise in einer Bund-Länder-Konferenz, wie Boris Pistorius sie vorgeschlagen hat.

Es geht nur miteinander – trotz unterschiedlicher Auffassungen. Wir sagen: Der Bundesinnenminister sollte abfragen, wie hoch die Bereitschaft zur Aufnahme von zusätzlichen Geflüchteten in den Bundesländern ist und diese Bereitschaft dann in Europa vortragen. Immer mit der Forderung, dass andere Länder auch ihre Kontingente erhöhen. Auch in Europa geht es nur gemeinsam.

Man könnte die Verteilung also noch besser organisieren?

Richtig. Unser Konzept für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das wir als Fraktion gerade zur Diskussion stellen, sieht das vor. Wir setzen auf Allianzen, auf Koalitionen, die zum Handeln bereit sind. Das ist zumindest im Moment der richtige Weg, um die Blockade zu lösen, die wir in Europa seit vielen Jahren haben. Man muss immer bedenken: Es geht um Menschen, nicht um Sachen. Die kann man nicht einfach irgendwo hinstellen. Ein Mensch, der irgendwo nicht hinwill oder nicht willkommen ist, der wird dort nicht bleiben. Das müssen wir besser berücksichtigen – in Europa, aber auch innerhalb von Deutschland. Gesine Schwan hat dazu Vorschläge ausgearbeitet.

Momentan kommen nicht viele Geflüchtete nach Europa, weil viele Wege nach Europa dicht sind. Kann sich eine Situation wie 2015, als Zehntausende an den EU-Grenzen ausharrten, trotzdem wiederholen?

Wir sollten auf jeden Fall vorbereitet sein. Das wird an vielen Stellen klug gemacht. Es werden zum Beispiel viele Unterkünfte zunächst nur stillgelegt, aber nicht direkt wieder veräußert. Das ist eine der Lehren aus 2015. Und wir dürfen uns nicht erpressbar machen. Das hat der türkische Präsident Erdogan in der Vergangenheit versucht, indem er die Geflüchteten benutzt hat, um Druck auszuüben. Das ist abscheulich.

Deswegen müssen wir in Europa im Zweifel in der Lage sein, solche Probleme bewältigen zu können, sollten sie wieder auftreten. Wir müssen alles tun, damit Menschen Lebensperspektiven haben, dort, wo sie sind, mit Diplomatie, mit humanitärer Hilfe, mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Natürlich haben wir die Entwicklung nicht immer in der Hand – der Auslöser 2015 war der andauernde Bürgerkrieg in Syrien. Humanitäre Notlagen können immer wieder passieren und darauf müssen wir uns einstellen.

Also einfach die globale Lage beobachten und im Notfall einsatzbereit sein?

Es gibt viel, was auf diplomatischem Weg gemacht werden kann. Zum Beispiel versucht Heiko Maas gerade in Libyen, den Friedensprozess zu unterstützen. Frieden ist die Voraussetzung dafür, das Geschäft der Milizen zu unterbinden, die Menschen foltern und versklaven. Dann können Hilfsorganisationen wieder ins Land und der Druck lässt nach, sich auf eine oft todbringende Reise über das Mittelmeer zu machen. Libyen kann eigentlich ein wirtschaftlich erfolgreiches Land sein und auch vielen Menschen etwa aus der Subsahara-Region eine Perspektive geben. Dafür arbeiten wir und das ist nur ein Beispiel von vielen.

Natürlich helfen auch legale Einwanderungswege, wie wir sie mit unserem Fachkräfteeinwanderungsgesetz eröffnet haben. Migration selbst kann sehr positiv sein für alle Seiten, wenn sie nicht aus Not oder Zwang geschieht, sondern aus freier Entscheidung und wenn es geordnet zugeht.

Trotzdem versuchen rechte Kräfte weiterhin Ängste zu schüren, dass Migrant*innen Arbeitsplätze wegnehmen, unseren Sozialstaat ausnutzen und so weiter. Was können Sie dem entgegensetzen, auch in der aktuellen Krise?

Das ist genau unsere Aufgabe: Dafür zu sorgen, dass auf dem Arbeitsmarkt keine zusätzliche Konkurrenz entsteht – gerade im Niedriglohnsektor. Oder denken wir an den knappen Wohnraum. Aber wir müssen auch die langfristigen Entwicklungen im Blick behalten. Trotz Corona sind die demographischen Trends die gleichen geblieben: In den nächsten Jahrzehnten brauchen wir Zuwanderung, um in Deutschland unseren Wohlstand zu erhalten. Damit die Arbeit erledigt werden kann, die da ist. Diese Zuwanderung muss so gesteuert werden, dass sie denjenigen, die da sind, genauso hilft wie denjenigen, die kommen. Auch in den Herkunftsländern dürfen Arbeitskräfte, die gebraucht werden, nicht abgezogen werden. Das ist nicht einfach, aber es ist möglich und deshalb stellen wir uns dieser Aufgabe mit großem Einsatz, umsichtig und beherzt.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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