100 Tage ist die große Koalition im Amt. Im Interview mit vorwärts.de zieht der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel eine erste Bilanz.
vorwärts.de: Wie sieht Ihre Bilanz nach 100 Tagen Schwarz-Rot aus?
Sigmar Gabriel: Die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister haben ein wirklich hohes Tempo vorgelegt, um unsere Wahlversprechen umzusetzen: Andrea Nahles mit Mindestlohn und Rentenpaket, Manuela Schwesig und Heiko Maas mit der Frauenquote, Barbara Hendricks mit den Verbesserungen beim Städtebau und Aydan Özoguz bei der doppelten Staatsbürgerschaft. Die Sicherung der Energiewende und die Reform des EEG sind auch nicht von Pappe. Und viele Menschen sind zu Recht froh, dass wir mit Frank-Walter Steinmeier endlich wieder einen Außenminister haben, der weiß, wie man mit internationalen Krisen umgeht. Eines ist dabei sehr wichtig: Die Zusammenarbeit in der Koalition funktioniert. Das Vertrauen ist da. Die Regierung ist handlungsfähig.
Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden?
Ja, wir haben in den ersten 100 Tagen mehr erreicht, als viele gedacht haben. Aus unserem Verhandlungserfolg beim Koalitionsvertrag werden jetzt gute Gesetze, die das Leben der Menschen verbessern. Für mich ist entscheidend, dass wir zeigen: Wir halten, was wir vor dem Mitgliedervotum versprochen haben. Die Genossinnen und Genossen haben uns Regierungsmitgliedern einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Und dem werden wir jetzt gerecht.
Die SPD wollte einen Politikwechsel auch im Bereich der Außenpolitik: Woran zeigt sich dieser?
Frank-Walter Steinmeier ist nach Kiew gefahren, als auf dem Maidan geschossen wurde. Er hat mit hohem persönlichen Einsatz zwischen damaliger Opposition und Regierung vermittelt. Und er gehört zu denen, die auch jetzt das Gespräch suchen, statt den Konflikt weiter anzuheizen. So muss man Außenpolitik machen: Mit heißem Herzen für die Menschen und kühlem Kopf für die Diplomatie.
Ein zentrales Ziel der sozialdemokratischen Außenpolitik ist eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Welche Perspektiven hat eine solche Partnerschaft nach der Annexion der Krim durch Moskau?
Das Verhalten der russischen Regierung ist schlicht völkerrechtswidrig. Dennoch müssen wir mit ihr verhandeln. Das ist ja eine große Tradition sozialdemokratischer Außenpolitik seit Willy Brandt: Auf Gespräche setzen – auch dann, wenn das viele andere längst aufgegeben haben. Bei allen Konflikten zwischen den Regierungen ist es wichtig, dass die Kontakte auf der Ebene der Zivilgesellschaft nicht abreißen. Das betrifft Städtepartnerschaften genauso wie den kulturellen Austausch. Russland ist mehr als nur die Regierung in Moskau.
Der flächendeckende Mindestlohn ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Dennoch wird in der Koalition permanent über Ausnahmen diskutiert. Wackelt die zentrale Forderung der SPD?
Nein. Es gibt klare Verabredungen, und die werden eingehalten. Wir hatten gerade den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer und seinen designierten Nachfolger Reiner Hoffmann zu Gast im SPD-Parteivorstand. Ich habe mich sehr über deren Unterstützung für den SPD-Kurs in der Regierung gefreut. Das war ja nicht immer so. Ohne den engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften könnten wir Großprojekte wie den Mindestlohn oder die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren gar nicht stemmen.
Der Widerstand gegen die Rente mit 63 seitens der Union und Wirtschafts-Verbänden scheint ungebrochen. Wird die SPD hart bleiben?
Ja, natürlich. Vor allem bleiben wir vertragstreu. Das Renten-Paket haben wir in den Koalitionsverhandlungen vereinbart, und so ist es jetzt auf dem Weg. Bis heute bekomme ich viele Briefe von Menschen, die sagen: "Endlich sorgt ihr dafür, dass ich nach einem harten und langen Arbeitsleben in den Ruhestand gehen kann, ohne dabei arm zu werden." Ich weiß, dass sich viele gut verdienende Professoren nicht vorstellen können, was das für viele Menschen bedeutet. Der mediale Gegenwind sollte uns aber nicht kirre machen. Die Rente mit 63 gehört zu den Projekten, auf die ich besonders stolz bin.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine zentrale SPD-Forderung. Lassen sich die Versprechen halten?
Manuela Schwesig zeigt das ja gerade: Das Elterngeld plus gibt jungen Familien mehr Flexibilität. Die Quote in Aufsichtsräten wird Unternehmen dazu bewegen, mit der Frauenförderung endlich ernst zu machen. Und vom Mindestlohn profitieren überdurchschnittlich viele Frauen. Aber natürlich bleibt noch viel zu tun – beim Kita-Ausbau genauso wie bei den Ganztagsschulen. Da müssen die Länder die richtigen Prioritäten setzen. Dort, wo die SPD regiert, geschieht das auch. Und die SPD hat durchgesetzt, dass der Bund dabei in den kommenden Jahren mit einer Entlastung von 6 Milliarden Euro hilft.
Fällt Deutschland beim Klimaschutz hinter seine selbst gesteckten Ziele zurück?
Nein. Gemeinsam mit Barbara Hendricks setze ich mich für ambitionierte Ziele auf europäischer und internationaler Ebene ein – Schwarz-Gelb hat das vier Jahre lang blockiert. Und mit dem Neustart der Energiewende sorgen wir dafür, dass mehr Strom aus Wind und Sonne nicht nur produziert, sondern auch in ein stabiles und bezahlbares Energiesystem integriert wird. Ich stehe ohne Wenn und Aber zur Industrie und zu den industriellen Arbeitsplätzen in Deutschland. Nicht mehr die Arbeitskosten, die Energiepreise sind die Wettbewerbsfähigkeitsfrage der kommenden Jahre. Das ist keine leichte Aufgabe. Aber nur wenn wir in Deutschland zeigen, dass die Energiewende gelingen kann, werden andere Länder unserem Vorbild folgen.
Wird es in dieser Legislatur die doppelte Staatsbürgerschaft für alle in Deutschland geborenen Migranten geben?
Ja. Ich bin sicher, dass wir uns über die konkrete Umsetzung des Koalitionsvertrags bald einigen werden. Ich weiß, dass für uns Sozialdemokraten das Glas oft eher halb leer als halb voll ist. Aber ich finde, wir sollten selbstbewusst sagen: Es war die SPD, die dafür gesorgt hat, dass Hunderttausende jungen Menschen Deutsche sein können, ohne ihre Wurzeln im Ausland kappen zu müssen.