vorwärts.de: Wie solidarisch ist unsere Gesellschaft?
Ulrich Schneider: Weniger solidarisch als wie dachten. Bis zur Vereinigung hatten wir die Möglichkeit, Wohlstand zu verteilen. Wir haben den Sozialstaat aufgebaut aber auch die
Renditen der Reichen zu bedient. Nach 1989 mussten wir zum ersten Mal aus der Substanz teilen. Was haben wir gemacht? Bei der Sozialhilfe gekürzt.
Hätte es ohne Mauerfall keine Probleme gegeben?
Schon Ende der 80er Jahre war klar, das sich der Sozialstaat, so wie er organisiert war, überlebt hatte. Es macht keinen Sinn, den Großteil der Leistungen über Beiträge und damit über die
Arbeitsplätze zu finanzieren. Außerdem perpetuiert er soziale Unterschiede: Wer arm ist, hat arme Kinder, die später selber arm sind.
Warum hat man nichts geändert, wenn man die Probleme kannte?
Alle Überlegungen für eine neue Architektur wurden durch den Mauerfall über den Haufen geworfen. Die Herausforderungen waren so groß, dass man nicht auch noch ein völlig neues Solidarsystem
entwerfen konnte. Und ehe man sich versah, kam Rot-Grün mit den Hartz-Reformen.
Die Hartz-Reformen sind seitdem im Visier der Kritiker. Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
Erstens müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass ein sozialstaatlicher Umbau ohne Umverteilung nicht möglich ist. Reiche müssen für Arme zahlen. Stattdessen verteilen wir derzeit über
die Kinderfreibeträge Geschenke an die Spitzenverdiener. Wer dagegen Hartz IV bezieht, erhält nicht einmal Kindergeld.
Besonders Familien spüren den finanziellen Druck. Kinder sind zum Armutsrisiko geworden. Woran liegt das?
Der Niedriglohnsektor hat sich extrem ausgeweitet. Die Löhne, die in Deutschland gezahlt werden, reichen in vielen Fällen nicht mehr aus, um eine Familie mit Kindern über die Runden zu
bringen. Selbst wenn beide Elternteile arbeiten. Bei den Alleinerziehenden ist jede dritte Familie armutsgefährdet.
Sie fordern einen Umbau des Sozialstaats. Was muss Ihrer Meinung nach am dringendsten geändert werden?
Alle Leistungen müssen so ausgestaltet sein, dass sie Perspektiven eröffnen und ein würdevolles Leben ermöglichen. Unser gesamtes Gesellschaftssystem basiert auf dem Versprechen, dass wer
sich anstrengt, auch eine Chance bekommt. Nur so konnte das System funktionieren, nur so waren die ganzen Ungerechtigkeiten erträglich. Wenn das Versprechen nicht mehr eingelöst wird, bricht
dieses Gesellschaftssystem zusammen.
Wie wollen Sie Chancen für die bislang Chancenlosen eröffnen?
Fast die Hälfte der Langzeitarbeitslosen ist ohne Perspektive in diesem System. Wir geben ihnen für ein halbes Jahr einen 1-Euro-Job, danach ist die Enttäuschung groß, weil kein
Arbeitsplatz dabei heraus springt. Wenn es für diese Menschen keine Arbeit gibt, brauchen wir einen öffentlichen Beschäftigungssektor. Ein anderes Beispiel: die Hauptschüler. Sie schreiben 30 bis
100 Bewerbungen und finden keine Lehrstelle. Kein Wunder, dass sie sich abmelden und andere Wege gehen. Wir müssen ihnen versprechen: "Wenn Du einen guten Abschluss machst, dann kannst Du eine
weiterführende Schule besuchen oder eine Ausbildung machen." Was meinen Sie, welchen Schub an den Hauptschulen das auslösen würde!
Sollten Kindergärten beitragsfrei sein?
Ja, für den, der es sich nicht leisten kann. Wer gut verdient, sollte seinen Beitrag zahlen. Wichtiger als die Beitragsfreiheit ist die Qualität der Einrichtungen.
2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Was wünschen Sie sich?
Dass die Bundesregierung nicht nur Werbeagenturen sondern auch Taten sprechen lässt. Dass es endlich bedarfsgerechte Hartz IV-Regelsätze für Kinder gibt und einen Masterplan zur Bekämpfung
von Armut in der Bundesrepublik.
Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, Dr. Ulrich Schneider. Foto: Dirk Bleicker. Mehr Infos zum Paritätischen Gesamtverband unter
www.der-paritaetische.de