Inland

Staatsrechtler zum Verfassungsgericht: „Vielfalt stärkt die Unabhängigkeit“

Während die Union noch über eine angeblich „linke“ Kandidatin streitet, erscheint Alexander Thieles „Machtfaktor Karlsruhe“. Im Interview erklärt der Staatsrechtler, warum es bei der Debatte um ein falsches Verständnis vom Bundesverfassungsgericht geht.

von Lea Hensen , Ella Strelow · 21. Juli 2025
Frauke Brosius-Gersdorf wurde Opfer einer rechten Hetzkampagne.

Frauke Brosius-Gersdorf wurde Opfer einer rechten Hetzkampagne.

Den Eklat um Frauke Brosius-Gersdorf konnte Alexander Thiele, Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht in Berlin, wohl kaum absehen. Und doch konnte der Erscheinungstag seines Buches über das Bundesverfassungsgericht vergangene Woche kaum passender sein.

Wenige Tage zuvor hatten Teile der Unionsfraktion die Wahl von drei Richter*innen für das höchste Gericht in Karlsruhe torpediert. Die Konservativen stören sich an der von der SPD nominierten Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf und fürchten, dass ihre Haltung zum Abtreibungsrecht die Rechtsprechung in Karlsruhe beeinflusst. Dabei wurden Aussagen der Juristin zu Abtreibungsfragen in einer rechten Hetzkampagne aus dem Kontext gerissen und Falschbehauptungen verbreitet.

Herr Thiele, Ihr Buch trägt den Titel „Machtfaktor Karlsruhe“. Darin erklären Sie, wie das Bundesverfassungsgericht funktioniert. Ist das Gericht in Karlsruhe zu mächtig geworden?

Das Bundesverfassungsgericht hat Großes geleistet bei der Stabilisierung der demokratischen Ordnung und der Liberalisierung unserer Gesellschaft. Insbesondere in 1950er und 1960er Jahren, als Deutschland gerade aus der NS-Zeit kam, hat das Gericht gezeigt, wie und warum Grundrechte den politischen Raum einschränken. Im internationalen Vergleich ist es mittlerweile jedoch einzigartig, wie weitgehend politische Streitfragen hierzulande in rechtliche Fragen umkodiert werden, indem man sie nach Karlsruhe trägt. Dabei gilt für jedes Urteil: Die Richter*innen hätten auch zu einer anderen Auslegung kommen können. Gemessen daran hat das Gericht bisweilen einen doch sehr großen Einfluss auf politisches Handeln. Ein Beispiel ist das Urteil zur Schuldenbremse 2023 – daran ist letztendlich die Ampel-Koalition zerbrochen. 

In der Debatte um Frauke Brosius-Gersdorf behaupten Teile der Union, sie sei zu links für das Amt als Verfassungsrichterin. Wie politisch unabhängig sollten Verfassungsrichter*innen sein? 

Jede Richterin und jeder Richter hat eine politische Auffassung. Rechtsprechung bedeutet aber gerade, sich von persönlichen Ansichten zu lösen und auszulegen, was das Gesetz sagt. Nach ihrer Wahl handeln Verfassungsrichter*innen vollkommen politisch unabhängig. Zusätzlich versucht man, das Gericht so zu besetzen, dass unterschiedliche politische Strömungen vertreten sind, die sich dann am Ende gegenseitig aufheben. Diese Vielfalt stärkt die Unabhängigkeit des Gerichts, für die Qualität der Rechtsprechung ist sie ein Gewinn.

Wieso ist es wichtig, dass die Richter*innen unterschiedliche Positionen vertreten, wenn sie am Ende doch ein gemeinsames Urteil fällen müssen?

Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: 1958 hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass Homosexualität weiter strafbar sein darf – ein aus heutiger Sicht skandalöses Urteil. Hätten wir danach nur noch Richter*innen berufen, die diese Meinung vertraten, hätte sich bis heute nichts an dieser Auffassung geändert. Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 und 1993 entschieden, dass Abtreibungen in Deutschland strafbar bleiben. Seitdem hat sich die Gesellschaft verändert, mehreren Studien zufolge ist heute die große Mehrheit Bevölkerung für eine teilweise Legalisierung von Abtreibungen. Es wäre also wichtig und richtig, dass eine Richterin diese breite Strömung behutsam im Gericht zum Ausdruck bringt. Sie müsste dann ja immer noch die anderen Richter*innen überzeugen.

Alexander
Thiele

Das Grundmisstrauen gegen die Politik schlägt in letzter Zeit auf Karlsruhe über.

Manche Abgeordnete akzeptieren die Vielfalt an politischen Positionen unter den Richter*innen offenbar nicht. Warum?

Dem liegt wohl ein naives Verständnis von Rechtsprechung zugrunde, wonach ein einziges Urteil ausreicht, um Begriffe wie Menschenwürde für alle Ewigkeit zu definieren. Dabei verändert sich die Bedeutung solcher Begriffe im Laufe der Zeit. Ansichten, die konträr zur bisherigen Rechtsprechung sind, sind also nur Ausdruck einer sich wandelnden Gesellschaft. Die zwölfjährige Amtszeit der Verfassungsrichter*innen trägt dem Rechnung: Das Grundgesetz bietet den Rahmen für unsere aktuelle Gesellschaft, und die Richter*innen sollen es während ihrer Amtszeit so auslegen, wie es zu den aktuellen Wertevorstellung der Gesellschaft passt. Das unterscheidet unser System grundlegend vom Supreme Court in den USA.

Früher wurden Verfassungsrichter*innen auf der Hinterbühne gewählt, erst seit 2015 sind Bundestag und Bundesrat zuständig. Ist die Wahl deswegen so politisch aufgeladen?

Nein, die Wahl im Plenum ist im Grundgesetz so vorgesehen. Es wäre falsch, die Verantwortung auf das Verfahren zu schieben. Dahinter steckt vielmehr ein politisches Versagen der Koalitionsfraktionen, insbesondere von CDU/CSU, die der Kandidatin im Wahlausschuss noch zustimmten, aber für die Abstimmung dann doch keine Mehrheit mehr sichern konnten.

Aber Abgeordnete dürfen doch frei wählen?

Ja, das können sie, aber sie schaden damit in manchen Fällen der demokratischen Kultur, die in einem parlamentarischen Regierungssystem auf Absprachen und verstetigte Mehrheiten setzen muss. Die Regierung kann auch nicht bei jedem Gesetzesentwurf bangen, ob er durchgeht oder nicht, weil Abgeordnete in der Abstimmung ihre Meinung ändern.

Welche Folgen hat die Debatte um Frauke Brosius-Gersdorf für das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts?

Die Funktionsfähigkeit des Gerichts wird nicht gestört, aber ich denke trotzdem, dass wir jetzt wieder schnell zu einer sachlichen Debatte zurückkehren müssen. Lange Zeit hatte die Gesellschaft ein sehr hohes Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht. Doch das Grundmisstrauen gegen die Politik schlägt in letzter Zeit auf Karlsruhe über. Wir müssen deswegen erklären, wie das Gericht funktioniert und warum der Auswahlprozess so gestaltet ist, wie er ist.

Alexander Thiele

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der BSP Business and Law School in Berlin. Sein Buch „Machtfaktor Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht im System des Grundgesetzes“ ist gerade im Beltz-Verlag erschienen.

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der BSP Business and Law School in Berlin.

Sie gehören zu den 300 Rechtswissenschaftler*innen, die in einem offenen Brief den Umgang mit Frauke Brosius-Gersdorf anprangern. Sollte sie ihre Kandidatur zurückziehen?

Nein. Frauke Brosius-Gersdorf ist eine hervorragende Verfassungsrechtlerin, mit einer starken Persönlichkeit, die dem Gericht guttun würde. Wenn sie an ihrer Kandidatur festhält und Verfassungsrichterin wird, kann es sein, dass ihr die Debatte anfangs noch anhaftet. Zieht sie aber zurück, ist das ein klarer Sieg für die rechte Hetzkampagne gegen sie. Das könnte Rechtsradikale weiter anstiften. Schon jetzt wird die andere Kandidatin der SPD, Ann-Katrin Kaufhold, im Netz als „Klimaaktivistin“ diffamiert.

Vertreter*innen der CSU haben ihr zuletzt nahegelegt, ihre Kandidatur zu überdenken, um den Koalitionsstreit zu beenden. Wie bewerten Sie das?

Ich finde das inakzeptabel. Frauke-Brosius-Gersdorf hat sich für dieses Amt nie beworben, sondern sie wurde gefragt, und zwar mit der ausdrücklichen Zusicherung, dass sich CDU/CSU und SPD einig sind. Es kann nicht sein, dass sie zusagt, und am Ende ihre Kandidatur selbst zurückziehen soll, weil einige Abgeordnete für eine rechte Hetzkampagne zugänglich sind.

Die Union sollte sich gut überlegen, ob sie sie wirklich ablehnen will – eine neue Kandidatin kann sie kaum noch blockieren. Abgesehen davon ist es völlig abwegig, Frauke-Brosius-Gersdorf als „linksradikal“ zu bezeichnen. Gerade im Wirtschaftsbereich vertritt sie Positionen, die CDU/CSU näherstehen. Und damit wäre sie am Gericht beschäftigt – nicht mit Abreibungsfragen, da eine Reform des Abtreibungsrechts in der Regierung von Friedrich Merz ohnehin nicht ansteht.

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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5 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 22.07.2025 - 09:42

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Soweit überprüfbar fand ich da´Vorwürfe gegen diese Frau als Verfassungsrichterin unhaltbar sind. An ihrer Person als auch am Bundesverfassungsgericht wurde da aber nun doch schon Schaden angerichtet - das ist nicht gut. Der vorwärts widmet dieser Sache und Person schon mehrere Artikel und generell in den Medien scheint das Thema 1 zu sein.
Aber es gibt auch Themen die für eine sozialdemokratische Partei wichtiger sein sollten: Geplünderte Sozialkassen sinkendes Realeinkommen, Mietwucher, Bildungsmisere, Militarismus etc. Da drängt sich mir doch manchmal die Frage auf ob diese gehypte Debatte vielleich ein Ablenkungsmanöver von wichtigeren Themen sein könnte.

Tatsächlich widmen wir uns dem Thema der Richter*innenwahl nicht als, wie von Ihnen impliziert, "Ablenkungsmanöver". Vielmehr haben wir festgestellt, dass es viele Leser*innen sehr interessiert und der Bedarf an Information und Einordnung dazu sehr hoch ist. Davon abgesehen ist diese Wahl nunmal aber auch ein sozialdemokratisches Thema - allein schon deshalb, da sowohl Frau Brosius-Gersdorf als auch Frau Kaufhold von der SPD vorgeschlagene Kandidatinnen sind und die SPD als Teil der Bundesregierung mit in der Verantwortung ist, die freien Posten am Bundesverfassungsgericht zu besetzen.

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 22.07.2025 - 17:37

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Gerade in diesem Falle fand ich es schwer Informationen zu erhalten: Was behaupten die "Rechten" und was ist daran falsch (inhaltlich nicht moralisch). Wie kann ich Behauptungen entkräften ? Der vorwärts und die ganzen pseudolinksliberalen Medien lieferten mir da keine Argumente aber jede Menge "Empörung".