SPD-Innenexperte: Nach Corona-Erfahrungen den Bevölkerungsschutz reformieren
Dirk Bleicker
Sebastian Hartmann, Sie fordern eine Reform des Bevölkerungs- und Zivilschutzes in Deutschland. Was genau versteht man unter Bevölkerungsschutz und wo hakt es?
Der Bevölkerungsschutz bezeichnet Maßnahmen und Einrichtungen im Rahmen des Katastrophen- und Zivilschutzes. Darunter versteht man den Schutz von Mensch, Gütern und der Umwelt im Rahmen einer Katastrophe sowie den Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungsfall. Laut Grundgesetz hat der Bund die Aufgabe, die Bevölkerung im Verteidigungsfall zu schützen, die Länder hingegen sind für den Schutz vor Katastrophen in Friedenszeiten zuständig.
Und das führt zu Problemen...
…ja, dies führt zu Parallelstrukturen und Reibungseffekten. Cyberattacken, Desinformation und Terrorismus stellen auch in Friedenszeiten erhebliche Bedrohungen dar, die schnell weite Teile des Bundesgebiets treffen können.
Die Kritik an ineffektiver und verwirrender Kleinstaaterei in Deutschland wächst, wie aktuell in der Corona-Pandemie. Braucht der Bund im Bevölkerungsschutz mehr Kompetenzen?
Der föderale Aufbau trägt maßgeblich zum Funktionieren des Bevölkerungsschutzes bei. Maßnahmen und Material können so bedarfsorientiert verteilt werden. Kommunen, Kreise und Städte wissen am besten, welche Kapazitäten wann und wo benötigt werden. Wir müssen uns vielmehr verabschieden von der Idee des Kooperationsverbotes und hin zu einem Kooperationsgebot.
Was schlagen Sie konkret vor?
Ich schlage eine Ausweitung der Kompetenzen des Bundes vor durch die Verortung des Katastrophenschutzes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Das würde dem Bund mehr Handlungsspielraum ermöglichen. Es würde das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe stärken und gleichzeitig den Ländern ihren benötigten Spielraum garantieren.
Die Länder agieren bisher ja nicht nur unabhängig voneinander, sondern mitunter auch mit widersprüchlichen Maßnahmen.
Der Bevölkerungsschutz ist ein Zusammenspiel aus zentraler fachlicher Beratung durch beispielsweise das Robert-Koch-Institut und dezentraler Vorsorge und Umsetzung von Maßnahmen durch die Länder, Kommunen und Städte. Damit dieses System funktioniert, ist eine ständige Rückkoppelung zwischen Bund, Ländern und Kommunen notwendig.
Wo genau sehen Sie Defizite?
Die Katastrophenschutzplanung der Länder ist teilweise veraltet. Erkenntnisse aus Übungen wurden nicht umgesetzt. Die Länder müssen ihrer Verantwortung gerecht und notfalls auch stärker in die Pflicht genommen werden. Hier muss das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eine stärkere Rolle spielen.
Viele Bürger*innen beklagen – etwa aktuell in der Corona-Krise – mangelnde Information und Transparenz der Behörden. Sehen auch Sie hier Verbesserungsbedarf?
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat bereits gute Arbeit geleistet beim Erstellen von Informationsmaterial und der Warn-App Nina. Dennoch sehen wir Defizite bei der Behördenkommunikation. Wir brauchen eine bundesweit einheitliche Kommunikationsstrategie. Ein strukturiertes Monitoring von Fake News ist wichtig, um Fehlinformationen aufgreifen und korrigieren zu können.
Braucht der Bevölkerungsschutz mehr finanzielle Mittel als bisher?
Ja, hier werden wir künftig mehr investieren müssen. In weiten Teilen staatlicher Tätigkeit hat eine starke Ökonomisierung stattgefunden. Jahrzehntelanger Personalabbau auf allen Ebenen und der Rückgang staatlicher Investitionstätigkeit haben sich auch im Bevölkerungsschutz niedergeschlagen.
Das war ja auch in der Corona-Krise zu merken…
… ja, in der aktuellen COVID-19-Pandemie stellen wir fest, dass beispielsweise Depotstrukturen nicht ausreichen, um auf Pandemien von nationalem Ausmaß zu reagieren. Die Bevorratung von Schutzausrüstung und medizinischem Material muss deutlich ausgebaut werden.
Werden Ihre Forderungen von der Fraktion beschlossen? Könnten Sie Teil des kommenden SPD-Wahlprogramms werden?
Mein Konzeptpapier liegt den SPD-Bundestagsabgeordneten in den jeweiligen mitberatenden Ausschüssen vor. Es ist wünschenswert, dass wir uns aktuell als Fraktion und Partei positionieren. Die Debatte läuft. Je nach Aufbau des Programms kann eine solche Positionierung auch Teil von Bundestagswahlprogrammen sein. Sicherheit ist und bleibt ein sozialdemokratisches Thema.
Welche Rolle spielt das Thema Bevölkerungsschutz in der politischen Debatte der Parteien?
In meinem Papier schlage ich unter anderem auch eine Änderung des Grundgesetzes vor. Solche weitreichenden Debatten müssen parteiübergreifend, offen und langfristig geführt werden. Daher verfolge ich die Positionen der Union und anderer Fraktionen sehr genau. Vor allem im Rahmen der Corona-Pandemie und der Probleme bezüglich der Bereitstellung von Schutzmaterialen ist die Debatte zum Bevölkerungsschutz mehr ins öffentliche Interesse gerückt. Dabei ist die Debatte keineswegs neu: Bereits 2003 hatte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily eine Grundgesetzesänderung angeregt.
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