Inland

So macht es die Schweiz

von ohne Autor · 7. Juli 2011
placeholder

"Anderswo sagen die Kinder zuerst Mama oder Papa, bei uns in der Schweiz ist das erste Wort Eisenbahningenieur." Dieser stolze Satz wird Moritz Leuenberger, früherer sozialdemokratischer Verkehrsminister der Schweiz. Der flapsige Ausspruch spiegelt ein Phänomen wieder, das den Deutschen abgeht: Die meisten Schweizer lieben ihre Bahn. Sie fahren auch viel Bahn. Fernbahn, Regionalbahn, Stadtbahn. Der öffentliche Verkehr der Stadt Zürich beispielsweise gilt europaweit als vorbildlich. Immerhin 37 Prozent ihrer Wege legen die Einwohner mit Bus und Bahn zurück, in Hauptverkehrszeiten steigt der Wert auf 60 Prozent. Zum Vergleich: Spitzenreiter in Deutschland ist laut Umweltbundesamt Frankfurt am Main mit 25 Prozent.

Öffentlicher Verkehr für den ganzen Kanton aus einer Hand

Was machen die Eidgenossen anders? Ein Ortsbesuch im Alpenstaat: Beatrice Henes leitet die Kommunikationsabteilung des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV). Eine einfache Antwort, was die Züricher besser machen als andere, hat sie nicht. Aber in ihrem Büro am Bahnhof Oerlikon, einem der Knotenpunkte der Stadt, entfaltet sich eine Art Baukasten. Mit vielen einzelnen Bausteinen, die, richtig zusammengesetzt, zu eben jenem vorbildlichen Bahnverkehr führen. Los geht es schon mit Henes Arbeitgeber. "Der ZVV organisiert den öffentlichen Verkehr für den ganzen Kanton Zürich aus einer Hand", erklärt Henes.


Keine langen Wartezeiten beim Umsteigen

Der Verbund bestimmt, wo Strecken ausgebaut werden, wo neue Bahnhöfe entstehen, aber auch, was Bus und Bahn kosten dürfen und wie häufig sie fahren. Organisatorisch ist der 1990 gegründete ZVV eine unselbstständige Anstalt des öffentlichen Rechts. Acht regionale Anbieter setzen seine Vorgaben als Dienstleister im Kanton um. Die zentrale Planung macht es möglich, dass alle Verkehrssysteme aufeinander abgestimmt sind. "Die S-Bahnfahrpläne passen zu den Fernverkehrszügen und die Busse und Trams sind auf die S-Bahn abgestimmt. Unser Ziel ist es, dass die Reisenden möglichst gute Reiseketten haben" so Beatrice Henes. Keine langen Wartezeiten also beim Umsteigen.


Alle rein, Bustüren zu. Ruhe im Wetzikon

Die sechs Verkehrsplaner des ZVV haben ein komplexes System aus so genannten Knotenbahnhöfen entwickelt, das einen schnellen Wechsel des Verkehrsmittels ermöglicht. Wetzikon ist so ein Knoten, 20 S-Bahnminuten vom Hauptbahnhof Zürich entfernt. Zwei mal in jeder Stunde ist dort die so genannte Umsteigespinne zu beobachten. 8.15 Uhr am Wetzikon: ein Tross Busse wartet schon, dann kommen die S-Bahnen an. S3, 5, 14 und S15. Pendler schwärmen wie ein Bienenschwarm heraus, streben ihrer Buslinie zu. Alle rein, Bustüren zu. Ruhe im Wetzikon. Ähnliches spielt sich am Hauptbahnhof ab, dort immer zur vollen Stunde. Der Begriff Stoßzeiten bekommt hier eine ganz neue Bedeutung.

Ein Ticket für Bahn, Bus, Tram und sogar den Schiffsverkehr

Ein weiterer Baustein im ZVV-System ist das Konzept "Ein Ticket für alles". Der Satz ist ernst gemeint. Wer mit dem Fernzug in Zürich ankommt, dessen Bahnticket gilt auch im kompletten Stadt- und Regionalverkehr, S- und U-Bahn, Bus, Tram - und sogar im Schiffsverkehr. Ob auf dem Zürich-See oder für die Taxischiffe, die auf dem Fluss Limmat verkehren - ein Kärtchen genügt.

60 Prozent Zuschüsse für den ÖPNV

946 Millionen Franken kostet der öffentliche Verkehr im Kanton Zürich 2011, das sind rund 790 Millionen Euro. Den größeren Teil, rund 464 Millionen Euro, erwirtschaftet der ZVV selbst, durch den Ticketverkauf und Werbeeinnahmen. 325 Millionen Euro sind Zuschüsse, jeweils zur Hälfte vom Kanton und von den Gemeinden. Letztere werden beteiligt, je nachdem, wie viele Haltestellen in ihrem Gebiet liegen. Eine der umfangreichsten Investitionen der letzten Jahre war der Bau der 13 Kilometer langen Glattalbahn. In drei Etappen wurde ab 2006 eine Tram-Linie gebaut, die nicht nur den (vorher nur per S-Bahn erreichbaren) Flughafen anbindet, sondern auch ein Neubaugebiet. Eine der Zielvorgaben des ZVV ist es, allen Bewohnern des Kantons eine gute Anbindung zu gewährleisten, natürlich auch dort, wo neu gesiedelt wird. Wie eben im Glattal. Dort setzte eine erfreulicher Effekt ein: Nachdem bekannt wurde, dass der ZVV das bis dahin rechtkleine Neubaugebiet anbindet, zogen Investoren nach, bauten noch mehr Wohngebiete und siedelten große Firmensitze an. Derzeit gilt das Glattal als eine der viel versprechendsten Wachstumsregionen rund um Zürich.

Für Verspätungen muss die S-Bahn Strafe zahlen

Ein weiterer Baustein in Henes´ Kasten für einen guten Nahverkehr ist die Kundenzufriedenheit: beim ZVV sogar ein fest definiertes Firmenziel mit hoher Priorität. Wie auch anderswo gab es in der Vergangenheit Defizite insbesondere in den Bereichen Sauberkeit, Pünktlichkeit und Information bei Störfällen. Ein Bonus- Mallussystem, das der ZVV mit dem S-Bahn-Betreiber, den Schweizerischen Bundesbahnen, abgeschlossen haben, schafft seit 2006 Abhilfe. Kommen beispielsweise die S-Bahnen häufiger als vereinbart zu spät, müssen die SBB eine Strafe zahlen, 2010 waren es 500.000 Euro. "Noch wirksamer als die finanzielle Einbuße ist nach unserer Erfahrung der Marketingeffekt: wenn alle Medien berichten, dass die S-Bahn schon wieder wegen Unpünktlichkeit zahlen muss, steht die SBB schlecht da", sagt Henes. Der Plan ging auf, die Pünktlichkeit hat sich stark verbessert.

Schweizerische Bundesbahnen: Vorfahrt für den Staatsbetrieb Es wurde mit harten Bandagen gekämpft, als 1898 die Schweizer Bevölkerung darüber abstimmen musste, ob sie eine staatliche Bundesbahn will. "Die Schweizer Bahnen dem Schweizer Volk" lautete das Credo der Befürworter. Vor einem zusätzlichen Beamtenheer, das die Macht des Bundes vergrößern und gleichzeitig seine Finanzen zerrütten würde", warnten die Gegner. Sie unterlagen.
87 Prozent der Reisenden erreichen pünktlich ihr Ziel Die Mehrheit der Schweizer stimmte für die Staatsbahn. Rückblickend war das eine gute Entscheidung. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) sind ein Maßstab im europäischen Vergleich. Etwa in Sachen Pünktlichkeit: So erreichten 2010 immerhin 87 Prozent aller Passagiere ihr Ziel pünktlich oder mit nicht mehr als drei Minuten Verspätung. Die Zufriedenheit der Kunden insgesamt mit ihrer Bahn liegt bei über 75 Prozent. Das schlägt sich auch in den Transportzahlen nieder: 951000 Reisende nutzten die SBB im vergangenen Jahr. Sie fuhren rund 17,5 Milliarden Kilometer, das entspricht einer Steigerung von fünf Prozent gegenüber der zurück gelegten Kilometer in 2009. Ein Viertel des Verkehrs in der Schweiz wurde 2010 mit den SBB bewältigt. YH

0 Kommentare
Noch keine Kommentare