Presseschau: Das sagen die Medien zum Koalitionsvertrag
Dirk Bleicker
ZDF: Mehr Fortschritt beim Impfen wagen
Die Ampel-Parteien haben zügig verhandelt. Nichts erinnerte an diese maßlose Zeitverschwendung vor vier Jahren, als Union, Grüne und FDP sozusagen auf Balkonien ihre vermeintliche Annäherung darboten.
Die Ampel-Leute hingegen haben nicht lange sondiert, sondern in 22 bewusst fast unsichtbaren Arbeitsgruppen ganz konkrete Texte verhandelt. Und diese Seiten bilden nun die einzelnen Kapitel des Koalitionsvertrags.
Angesichts der Lage draußen muss dieser Vertrag zum Vertragen taugen. Die Abmachungen darin müssen so belastbar sein, dass sie die vormaligen politischen Gegner zusammenhalten. Das wird nicht einfach.
RND: Die Ampel steht auf Machtübernahme
Wenn die Regierungszeit der Ampel die Verheißungen einlöst, die die Überschrift des Koalitionsvertrags verspricht, dann kommen vier gute Jahre auf das Land zu. „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Den drei Ampel-Parteien ist es gelungen, ihre Aufbruchsstimmung und den Wunsch trotz großer Unterschiede zusammenzuhalten, bis zum Ende der Koalitionsverhandlungen zu tragen.
Wären da nicht die explodierenden Corona-Zahlen, gegen die SPD, Grüne und FDP in den vergangenen Wochen nicht entschlossen genug vorgegangen sind, wäre die Vorstellung dieses Koalitionsvertrags ein guter Augenblick, die Demokratie zu feiern: Am Ende des selbstbestimmten Endes der Ära Merkel findet sich eine neue Mehrheit zusammen, die trotz großer inhaltlicher Unterschiede vertrauensvoll und mit gegenseitigem Respekt die nächste Regierung verhandelt haben.
zeit.de: Die neue Demut
SPD, Grüne und FDP haben in wenigen Wochen eine Koalition vorbereitet, mit der vor wenigen Monaten kaum jemand ernsthaft gerechnet hat: Zu groß waren die Unterschiede und Animositäten zwischen den Parteien. Zu dominant schien die Union, zu unattraktiv die SPD. Nun aber hat die Ampel ihre Koalitionsverhandlungen erfolgreich beendet. Das ganze lief zügig und professionell ab. (…)
Natürlich mussten alle Parteien im Laufe der Koalitionsverhandlungen Kompromisse eingehen. Dennoch scheinen die meisten glaubhaft zufrieden zu sein. Ein Aufschrei unter den Anhängern – von Kevin Kühnert bis Wolfgang Kubicki ist es ein breites politisches Spektrum – blieb aus. Nur von den Jusos und Kreuzberger Grünen kam zunächst Kritik. Dass eine Partei dem Koalitionsvertrag ihre Unterstützung verweigern wird, ist aber kaum vorstellbar.
taz: Auf den Kanzler kommt es an
Egal wie gut die Ampel funktioniert – entscheidend ist, ob sie den klimaneutralen Umbau der viertgrößten Industrienation anpackt. Das ist eine gigantische, langfristige Umwälzung, ein Projekt, weit größer als die deutsche Einheit. Es ist zweifelhaft, ob dies wirklich das Projekt der Ampel ist.
Viel hängt dabei vom Kanzler ab. Olaf Scholz kann Merkel Nummer zwei werden, der zurückhaltende Moderator eines komplizierten Dreierbündnisses, der wenig riskiert und auf Sicht fährt. Wenn die Ampel eine ökologische Fortschrittsregierung sein will, muss Scholz etwas anderes sein. Er muss der Klimakanzler sein, der einen Plan in der Tasche hat. Die Figur, die er im Wahlkampf war. Es wäre eine Überraschung.
spiegel.de: Jetzt muss Scholz sich neu erfinden
Es ist schon eine märchenhafte Entwicklung, die sich da gerade vollzieht. Scholz, das ist der Mann, der noch vor einem halben Jahr so chancenlos schien, dass es fast tragisch wirkte, ihn vom Kanzleramt sprechen zu hören. Der Mann, dessen Partei jahrelang am Rande der Selbstzerstörung dahinregierte, zerfressen von inneren Zweifeln, ob die Sozialdemokratie noch in die Zeit passt. Aber Scholz war im Wahlkampf mit einer solchen Unauffälligkeit unterwegs, dass kaum jemand merkte, wie er genau damit die Berechenbarkeit des politischen Systems aushebelte. Wer nicht auffällt, fällt auch nicht negativ auf, und wer nicht negativ auffällt, gilt rasch als verlässlich. Das war sein Rezept, die Kanzlerschaft ist sein Triumph.
Strategisch ist er mit der Ampel nun gut aufgestellt. Scholz hat verhindert, dass die Grünen das Lager wechseln, gleichzeitig hat er die FDP aus den Armen der Union herausgelöst. Er wird der Chef einer wahrscheinlich nicht sehr polarisierenden Regierung, was CDU und CSU die Oppositionsarbeit erschwert. Aber die Phase, in der es ihm half, einfach alles scholzig wegzuverwalten, endet nun. Der Sozialdemokrat wird sich und seinen Stil ändern müssen, wenn er ein guter Kanzler werden will.
tagesschau.de: Am Ende müssen Taten folgen
Mehr Fortschritt wagen – das also steht auf dem Vertrag. Die Ampel hat die Latte hochgelegt und ein ambitioniertes Programm vorgelegt, will Politik der großen Wirkung machen und den Staus Quo überwinden. Höher, schneller, weiter, besser.
Im Vertrag gibt es kaum eine Seite, auf der Begriffe wie Modernisierung, Transformation oder Fortschritt fehlen. Mut und Zuversicht wollen sie vermitteln, eine neue politische Kultur entwickeln. Von den anderen lernen, Perspektiven wechseln, wenn es nicht weitergeht - in einer 6 auch mal eine 9 sehen. Ein fast philosophischer Auftakt. Schade, dass im Kleingedruckten nicht entsprechend viel Konkretes zu finden ist: Ideen, Schnittmuster, Vorhaben. Es ist eben eine Ampel - drei Parteien, die nicht zusammengehören, aber es doch miteinander versuchen wollen. Eine Chance haben sie verdient.
Frankfurter Rundschau: Anfang ohne Zauber
Am erstaunlichsten ist, wie unspektakulär die SPD ihre Wahlversprechen in passenden Ministerien abbilden will. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besetzen das Arbeitsministerium für die Erhöhung des Mindestlohns. Sie stellen die Spitze des neu geschnittenen Ministeriums für Bauen und Wohnen und könnten so die Wohnungsoffensive umsetzen. Wenn all dies käme, trüge die Regierungszeit der Ampel leise, aber effektiv eine klar sozialdemokratische Handschrift.